Es gibt Veranstaltungen, zu denen lasse ich mich nicht lange bitten und bin beim Anmelden unter den Schnellsten – wenn auch nicht später im Rennen. Vor so etwas wie einem Doppelmarathon habe ich allerdings Respekt, vor einem Marathon mit einem Ultramarathon am Folgetag erst recht.
Nun, vielleicht hatte man mit mir ein Einsehen, oder ich habe es zunächst einfach nicht mitbekommen: Eine Teilnahme an nur einem der beiden Läufe war ebenfalls möglich, und so stand ich eines Tages plötzlich und erwartet auf der Teilnehmerliste des 1. Werratal Schlösser und Burgen Ultratrails mit rund 46 Kilometern und 1.600 Höhenmetern. Wie konnte das nur passieren?
Mimimi
Noch fünf Tage bis zum Start. Kennt ihr die gemeine Männergrippe (influentia masculum)? Die habe ich gerade. Brandgefährlich, Lauterbach würde davor warnen. So kann ich doch unmöglich am Wochenende einen Ultra laufen. Oder vielleicht doch – dann schwitze ich die gemeinen Viren einfach aus!
Wenn Gerno (der vom BiMa) und Uwe die Streckenplanung übernehmen, kann das nur in einem maximalen Vergnügen enden. Man erinnere sich nur an den diesen völlig verrückten Marathon im Februar dieses Jahres. Insofern wäre es nahezu sträflich und zudem auch extrem traurig, wenn ich wegen eines derartigen Mimimis nicht Start stehen würde. Das sieht jeder ein – nicht mal die Holde mahnt zur Vorsicht: „Komm schon, wenn es soweit ist, stehst du wieder da und bist putzmunter. Ist doch immer so.“
Sie hat recht
Wie immer hat sie recht, die Holde. Es ist Sonntag früh, ich falle aus dem Bett und sämtliche Symptome einer vermeintlich schweren Krankheit sind verflogen oder bereits in Wartestellung für den nächsten Lauf. Einzig der Respekt vor der heutigen Aufgabe ist noch vorhanden – im Gegensatz zu einer gescheiten Vorbereitung, die man eigentlich vor solch einem Ultra absolviert haben sollte. Nun ja, wird schon schiefgehen – ist ja nicht der Erste und irgendwie klappte es bisher immer.
Die üblichen Verdächtigen
Mit einem „Hier hast du schon mal deine Medaille!“ werde ich bei der Ankunft von Uwe empfangen. Oh, wow. Die ist aber schön. „Das ist ja verrückt – da muss ich ja gar nicht loslaufen!“ entgegne ich ihm.
Apropos verrückt: All die Verrückten, die ich da im Hof der Burg Ludwigstein vorfinde, kommen mir entweder bekannt vor oder sind mir schon seit längerer Zeit ans Herz gewachsen. Ultraläufer, normale Menschen halt. „Die üblichen Verdächtigen sind auch wieder hier“ höre ich nicht nur einmal. Zugegeben: Eine Veranstaltung zu finden, an der ich mal nicht auf die Meute treffe, ist auch beinahe unmöglich. Viele der Verrückten hier stehen beinahe jedes Wochenende an irgendeiner Startlinie – wenn nicht gar an zwei Tagen hintereinander. Doppeldecker schimpft sich sowas. Nur falls ihr mal auf die bekloppte Idee kommen solltet, dass das was für euch ist.
Kaum haben jene Doppeldecker-Freaks den Neuankömmlingen von ihren Abenteuern des Vortages berichtet, mahnen Gerno und Uwe zur Pünktlichkeit. Der 9:00 Uhr Start ist gesetzt, komme was da wolle. Das „Los geht’s!“ liegt den beiden regelrecht auf der Zunge, da fällt ihnen gerade noch ein, dass ein Gruppenbild mit der pittoresken Burg Hanstein im Hintergrund keine ganz so schlechte Idee wäre.
Jetzt aber wirklich: Los geht’s!
Auch wenn wir alle den Track auf der Uhr haben (oder haben sollten) – was hindert uns daran, einfach stur den Läufern vor uns zu folgen? Die werden schon wissen, wo es lang geht. Uns so kommt es, dass wir bereits nach 200 Metern das erste Mal von der Strecke abweichen. Nur gut, dass wir noch mehr als 45 Kilometer Zeit haben, das Ding mit dem Navigieren hinreichend zu üben.
Da die Burg Hanstein im Hintergrund des Gruppenbildes so hübsch aussah, müssen wir uns das Prachtstück mal aus der Nähe ansehen. Die erste Möglichkeit, anhand diverser Selfies das rühmliche Sportlerleben zu dokumentieren, haben wir somit bereits bei Kilometer 4,7.
Nach und nach kristallisieren sich erste Grüppchen heraus, mit denen ich diesen Lauf wohl gemeinsam verbringen werde. Mit Marcel bin ich kürzlich schon beim Bergtrail in der Rhön viele Kilometer zusammen gerannt. Und ja – da ist noch der Thorsten. Den treffe ich bei so ziemlich jedem Event. Wenn er nicht gerade am Berg kurze Zwischensprints wie einst Usain Bolt beim Aufwärmen auf der Bahn einlegt, dann gesellt er sich meist zu uns. Jene Sprinteinlagen sind nicht die einzige Macke, die er hat. Aber dafür kennt und mag man ihn. Ein Unikat.
Nach exakt 6,85 Kilometern erreichen wir die die Teufelskanzel nahe Lindenwerra. Von dort hat man eine gute Aussichtsmöglichkeit, besonders auf die Werraschleife. Wenn man denn mal anhält. Tatsächlich musste ich die Jungs erstmal bremsen. „Hey, jetzt mal langsam! Wenn wir hier nicht ein paar schöne Fotos machen, habe ich nix für meinen Bericht!“
Das Argument hat gezogen, wie ihr sehen könnt. Bis zum Ende des Laufs funktioniert das mal mehr und mal weniger. Aber so ist das nun mal mit den Jungs, die noch nicht meine Altersklasse erreicht haben. Eine Altersklasse, in der man auch mal die ein oder andere Pause braucht.
Was selbstredend auch für Einhalt sorgt, sind die liebevoll eingerichteten Verpflegungspunkte, die Gerno und Uwe auf der Strecke geplant haben. Nach 12,6 Kilometern erreichen wir den ersten von zwei VPs. Dieser hier wird von Alexander betreut. Falls du das liest: Lieben Dank für deinen Einsatz. War alles lecker.
Stockeinsatz
Voll die tolle Idee ist es mitnichten, sich den Wanst am VP vollzuschlagen, ohne vorher auf das Höhenprofil zu schauen. Das rächt sich nicht nur in der Magengegend. Da hilft es auch nur bedingt, dass ich mir vor dem Lauf noch ein paar Trailsticks geleistet habe. Bei über 1.600 Höhenmeter sollte sich die ein oder andere Gelegenheit finden, wo man die Dinger nutzen kann. Auf den nächsten Kilometern geht’s schon mal heftigst bergauf.
Dafür, dass ich noch nie mit Stöcken unterwegs war, klappt das eigentlich ganz gut. Zumindest stelle ich mich nach eigenem Empfinden nicht so doof an und stelle zudem fest, dass das hochprofessionelle Gerät (ich hab mir selbstverständlich das teuerste Modell von LEKI gegönnt) nicht nur beim Anstieg, sondern auch beim Downhill hilfreich sein kann.
So abwechslungsreich wie das Höhenprofil und die Landschaft gestaltet sich bis hier hin auch das Zusammensein unter uns Läufern. Unter die bereits bekannten Gesichter mischen sich noch nie gesehene, aber dennoch irgendwie vertraute Menschen. Sehr wohl in guter Erinnerung ist mir allerdings mein Namensvetter Martin Öhm. Mit ihm habe ich 2018 meinen ersten Ultra gefinished. Wenn das mal kein gutes Öhmen äh Omen für den heutigen Tag ist!
Mittlerweile habe ich auch den Sinn und Zweck von Thorstens Bergsprinteinheiten erkannt. Er läuft nur aus dem Grund vorweg, um feine Bilder von uns zu machen. Vielen Dank dafür – großartiger Einsatz.
Grenzerfahrungen
In meiner Altersklasse kennt man die innerdeutsche Grenze noch in der Art, wie man sie nicht mehr erleben möchte. Wir können uns glücklich schätzen, dass der einzige Makel, den wir heute auf diesem Gebiet vorfinden, jene recht schlecht laufbaren Panzerplatten sind. Die Angst, dass in deren Löcher und Spalten entweder die Stöcke oder die Füße ab- und umknicken, ist auf den nächsten Kilometern unsere ständige Begleitung.
Bei Kilometer 24 angelangt, verlassen wir den ehemaligen Kolonnenweg und tangieren eine umzäunte Schafherde. Marcel und ich sind uns nicht sicher, ob Thorsten und Martin Bekanntschaft mit dem Hütehund machen werden. Sicherlich ist es völlig korrekt, wenn man stur dem Weg folgt, aber doch nicht, wenn man dafür über Elektrozäune klettern muss. Wir laufen daher mal lieber außen rum.
Mittlerweile sind wir wieder in Hessen angelangt und genießen auf dem Aussichtspunkt auf der Hörne einen herrlichen Ausblick über die bewaldeten Hügel der Hessischen Schweiz. Laufen, dort wo andere Urlaub machen. Hach.
Zurück in der Zivilisation
Wenn ich was richtig gut kann, dann ist es mit meinem Mimimi anderen Menschen auf den Sack zu gehen. Auf ein „Ich hab Hunger“ folgt in der Regel ein „Ich hab Durst“. Diese Eigenart schleppe ich mit mir rum, seit ich die ersten Worte plappern konnte. Dazu muss ich allerdings sagen, dass wir mittlerweile alle wirklich sehr viel Bock auf das Erreichen des zweiten VPs haben. Zu lange liegt der erste bereits hinter uns – meine Wasservorräte sind am Ende. Wenn es noch länger dauert, dann kann ich das von mir auch behaupten.
Der VP 2 in Bad Sooden-Allendorf bei KM 33,5 kommt daher wie gerufen. In der Garage von Heiko erwarten uns liebe Menschen mit einem reichhaltigen Getränke- und Snackbuffet. Nachdem ich mich wie eine Termite durch das komplette Angebot gefressen habe, nötige ich die Gruppe zum Aufbruch. Die Einleitung des finalen Endspurts startet – wie immer nach solchen längeren Pausen – etwas hölzern, aber immerhin. Sie startet.
Sadistische Endspurteinleitung
Jetzt wird’s fies. Aber so richtig. Wenn man nach mehr als 35 Kilometern auf der Uhr inklusive Milliarden Höhenmetern an der Werratal Therme vorbeilaufen muss und der Schweiß auf der Stirn nicht vom Saunaaufguss resultiert, dann grenzt das beinahe an einer leicht sadistischen Veranlagung des Organisators. Ich prangere das an, notfalls vor dem EGMR in Straßburg.
Kaum habe ich mich nach ein paar Kilometern wieder einigermaßen beruhigt, kommt der Thorsten mit einer seiner üblichen Macken an (ja, er hat mehrere): „Du Martin, nächste Woche ist der Leinetal-Ultra. Haste nicht Bock da mitzulaufen?“ – „THOOOOORSTEN!!!“
Doch damit nicht genug. Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, ob die Streckenführung wirklich einmal über Außenbereich des Restaurants des Romantik Hotels Ehrenberg führt – vorbei an frisch aufgetischten Burgern und anderen Köstlichkeiten. Wenn ich es an den verdutzen Gästen beurteilen soll – eher nein. Wenn ja, dann ist es die Fortführung jener sadistischen Veranlagung, die sich Gerno und Uwe zuvor schon bei der Werratal Therme geleistet haben. Ja, okay – wir hätten uns einfach auch hinsetzen und etwas bestellen können…
Mittlerweile hat uns Thorsten verlassen. Als Sylke plötzlich von hinten zum Überholen ansetzt, nutzt er die Gelegenheit und hängt sich an sie dran – wohl wissend, dass diese für jegliche Ultra- und Marathonabenteuer in naher Zukunft stets ein offenes Ohr haben wird.
So bestreiten wir noch verbleibenden Anstiege zurück bis zur Burg Ludwigstein als Trio. Kurz vor Pipi verliere ich die Jungs aus den Augen – eines meiner Beine ist der Meinung mittels eines Krampfes für eine baldige Beendigung der Veranstaltung zu plädieren. Ja, okay. Wenn es weiter nichts – wir sind ja gleich da, die Beine und ich. Nach 6 Stunden und 11 Minuten stoppe ich die Uhr und finde, dass das heute ein ganz toller Tag war.
Mein Fazit zum 1. Werratal Schlösser und Burgen Ultratrail
Mein Radar für Veranstaltungen, die von Gerno und Uwe organsiert werden, läuft generell ständig auf Hochtouren. Genau diese heutige Veranstaltung beweist, dass das auch gut so ist. Der 1. Werratal Schlösser und Burgen Ultratrail ist definitiv einer der schönsten Landschaftsläufe, an dem ich bisher teilnehmen durfte.
In Anbetracht der fiesen Männergrippe, die vielleicht doch ein klein wenig eingebildet war, kann ich wohl völlig zufrieden mit dem Ergebnis (Platz 10 gesamt und 2. in der AK) sein, zumal fast alle anderen Teilnehmer ein Marathontraining vom Vortrag als Vorsprung hatten – das muss man ja auch mal sagen. Hehehe…
Vielen lieben Dank an Gerno & Uwe sowie an alle Helferinnen und Helfer. Bei der zweiten Auflage dieser grenzgenialen Veranstaltung bin ich selbstverständlich wieder dabei!
12 Kommentare
Comment by Andreas
Andreas 8. Oktober 2023
Sieht wie ein richtig schöner Lauf aus, mit einer kleinen, verschworenen Teilnehmergruppe. Inzwischen bist du ja zu einem Spezialisten für Events 42+ km geworden!
Comment by Martin
Martin 9. Oktober 2023
Das stimmt wohl. Genau diese Events machen mir mittlerweile am meisten Spaß. Die 42+ km kann man in keinster Weise mit der Rennerei auf der Straße vergleichen. Viel entspannter, kein Konkurrenzkampf, das Ankommen und das Abenteuer auf der Strecke stehen im Fokus.
Comment by Jenny
Jenny 9. Oktober 2023
Ganz toller Bericht!! Das war wirklich ein richtig schöner Lauftag auf einer großartigen Strecke
Comment by Martin
Martin 9. Oktober 2023
Jepp, ich könnte sofort wieder loslaufen. War wirklich sehr schön. Da hat alles gepasst.
Comment by Jenny
Jenny 9. Oktober 2023
Genau so sieht’s aus
Comment by ultraistgut
ultraistgut 13. Oktober 2023
Da musste ich tatsächlich nachsehen, ob du Wort hältst und weiterschreibst : und du tust es ! Warum gefällt mir das ? Bleib bitte am Ball und halte weiter die Stellung !
Wieder ein sehr amüsanter, kurzweiliger Bericht über DEIN Ereignis, zweiter Platz in der Altersklasse, was willst du mehr ? Weitermachen !!! Weiterlaufen !!
Was die Platten der ehemaligen DDR angeht, so kann ich ein Lied davon singen, da ich auch seit über 20 Jahren dort wohne, und immer wieder muss ich irgendwo darüber laufen und/oder Fahrradfahren, bin froh, wenn die Strecke dann irgendwann beendet ist.
P. S. Das Profil ist auch nicht von schlechten Eltern !!
Comment by Martin
Martin 13. Oktober 2023
Ja, das Profil war kernig. Die Steigungen bekommt man auf dem Foto nicht so richtig vermittelt.
Danke für deinen Besuch und deinen Kommentar – und ja: Ich bleib dran. Beim Laufen und Schreiben!
Comment by Oliver
Oliver 17. Oktober 2023
Bei Premieren mitzumachen ist ja immer mal gerne ein Überraschungsballon, aber für die Vita auf jeden Fall toll: „Ich war beim ersten mal dabei!“ Sowas mag ich. Auch sonst lief es sich ja offenbar ganz rund, schöne Veranstaltung, prima durchgezogen, schöne Platzierung, nette Menschen, dafür machen wir das. Klasse!
Comment by Martin
Martin 17. Oktober 2023
Die beiden Organisatoren sind keine Newbies. Insofern war ich mir sicher, dass das eine gelungene Veranstaltung wird. Es ist eher so in der Art „Na, was haben die wohl jetzt wieder ausgeheckt?“ – und sowas liebe ich in der Tat auch sehr gerne.
Comment by Martin Öhm
Martin Öhm 18. Oktober 2023
Toller Bericht und ein ebenso toller Lauf mit dir! Ich hoffe, du bist beim Meißner nächstes Jahr auch dabei?! Dann natürlich mit Doppeldecker
Übrigens, beim Leinetal Ultra eine Woche später hab ich meine Beine dann auch gemerkt …
Comment by Martin
Martin 18. Oktober 2023
Argh. Mit dem Doppeldecker kann ich mich ehrlich gesagt noch nicht so ganz anfreunden. Ich überlege es mir noch.
Comment by Jenny Engler
Jenny Engler 18. Oktober 2023
Ich kann Martin Öhm zu 100% zustimmen!! Und einen Doppeldecker schaffst du auch!!!