Als der Schlösser- und Burgen-Ultratrail vor gut einem Jahr Premiere hatte, war ich hin- und hergerissen. Schöne 50 Kilometer mit beachtlichen 1500 Höhenmetern durch den Bergpark und Umgebung – sozusagen ein Abenteuer in meinem natürlichen Habitat. Doch dummerweise war mein Trainingszustand eher so mittel. Also mal lieber flache Bälle und stattdessen ein Supportlauf auf den letzten 30 Kilometern für ein paar Jungs aus der Crew. Dass wir am Tag der Tage mehr Schnee hatten als in den Monaten zuvor, machte die Sache noch spannender. Ich war angefixt für die Neuauflage, dann aber die komplette Distanz.
Was soll ich sagen? Auch in diesem Jahr ist mein Trainingszustand eher so mittel. Da fehlen ein paar lange Dinger zur Vorbereitung – einer Erkältung sei Dank. Da ich mich aber frohen Mutes gleich am ersten Tag der Ausschreibung für die zweite Auflage des Schlösser- und Burgen-Ultratrails angemeldet hatte, gibt es dieses Mal kein Zurück. Wird schon irgendwie gehen, die paar Kilometer. Apropos gehen – ach nee, ich sag nix…
Klassentreffen. Mal wieder…
Was haben die von Sylke organisierten Läufe gemeinsam? Außer, dass man sich anhand eines GPX-Tracks orientieren und in der Regel auf Verpflegungspunkte verzichten muss? Richtig: Man trifft am Start bekannte Gesichter. So groß ist das Völkchen an „Extremläufern“ nun auch wieder nicht, auch wenn man das innerhalb seiner Bubble annimmt.
Im Fokus des Smartphones der Organisatorin und unter den 22 Teilnehmern befinden sich, wie üblich, der Thorsten und der Ron. Auch Nina ist dabei, die heute ihren ersten Ultra in Angriff nimmt. Somit habe ich gleich mehrere Opfer gefunden, die sich im Fall der Fälle mein Mimimi anhören müssen, falls es nicht so laufen sollte, wie ich es mir erhofft habe.
So schön das mit der Sonne heute auch ist – Gegenlicht bei Gruppenfotos ist hinderlich. Nach einigem Hin und Her auf dem Innenhof vom Schloss Wilhelmsthal in Calden ist es endlich vollbracht. Das Werk ist im Kasten, es kann losgehen. Nur fünf Minuten Verspätung – damit sind wir von Beginn an immer noch flotter unterwegs als die Deutsche Bahn. Abfahrt!
Gleich auf den ersten Metern geht es zu, wie beim Groundhog Day: Thorsten läuft vorweg. Immerhin kann er sich, anders als beim Werrabrücken-Tunnel-Kolonnenweg-Marathon, nicht verlaufen, denn es geht erst mal schnurgerade auf einsamen Alleen geradeaus Richtung Fürstenwald.
Zunächst besteht meinerseits erstmal Redebedarf mit Thorsten, Ron und Nina. Bei Letzterer muss ich mich unbedingt bedanken, dass sie mich Mitte der Woche noch daran erinnert hat, dass bei den Temperaturen, die für heute vorausgesagt sind, die üblichen zwei Flasks etwas zu wenig sein dürften. Spontan habe ich mir daher bei Jeffs kleinem Versandhandel eine Trinkblase bestellt, die gerade noch pünktlich am Freitag eintrudelte.
Irgendwann nach diesem Gespräch zieht Nina von dannen. Durchaus verständlich. Wenn ich zuvor den BiMa 42 gewonnen hätte, würde ich auch derart ambitioniert die paar Kilometer mehr in Angriff nehmen.
Wir nehmen etwas Fahrt raus und erreichen den Hangarsteinsee. Tatsächlich sehen heute beinahe alle Seen gleich aus. Bei dem hier dachte ich zuerst, es wäre der Blaue See, aber der folgt erst später. Das mit meiner Orientierung war auch schon mal besser.
Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, aus dem heutigen Tag eine Art Fotosafari zu machen. Die Gelegenheit ist günstig: Traumwetter und allerhand Sehenswürdigkeiten. Für das erste Selfie ist Ron noch ohne jegliche Einwände zu haben. Das wird sich später ändern.
Das ist der Weg
Auf feinsten Trails geht es weiter zum ersten (im wahrsten Sinne des Wortes) Höhepunkt des Laufs. Bis es so weit ist, frage ich mich Meter um Meter, wo wir gerade wohl sind. Gefühlt war ich hier noch nie.
Erst als wir beinahe knöcheltief in der Pfütze stehen, erinnere ich mich: Hey, hier hast du dich mal bei ähnlichen Bedingungen lang hingelegt. Das war ein Spaß – zumindest für den Rest der Crew. Schadenfreude uns so. Ihr kennt das. Meine Klamotten habe ich damals in der Badewanne vorgewaschen. Ich schweife ab, sorry.
Das ist der Weg! Mandalorian Fans anwesend? Okay, vergesst es. Also: Das ist der Weg zu den Helfensteinen. Ein wundervolles Fleckchen Erde. Genau hier entstanden übrigens die Bilder, die ihr hier im Blog auf der Startseite bewundern könnt. Ich finde, das solltet ihr wissen.
Oben auf dem Hohen Dörnberg angelangt – ihr erinnert euch an die Fotosafari – greife ich als Erstes zum iPhone, um das Panorama abzulichten.
Ein Selfie darf’s auch noch sein. Ron wird langsam ungeduldig. Viel Zeit lässt er mir nicht. Hat er nicht vorhin noch gemeint, dass er den heutigen Lauf gechilled angehen lassen will?
Wieder auf dem Weg bergab entdecke ich einsam und mutterseelenallein einen gelben Krokus auf der Wiese. Hach, wie hübsch. Ich halte kurz inne, greife zum iPhone, entscheide mich aber dann doch lieber weiterzulaufen. Ron ist nämlich schon beinahe verschwunden. Wenn ich mich nicht zusammenreiße, kann ich die restlichen 40 Kilometer allein rennen.
Noch genießen wir feinste Singletrails, die vom Hohen Dörnberg bergab verlaufen. Der erste Frühlingstag beschert nicht nur warme Temperaturen, sondern auch tolles Licht. Wenn Ron wüsste, wie großartig das alles aussieht, würde er dann langsamer rennen, damit ich ihn besser ins Bild setzen kann? Ich frag ihn lieber nicht.
Spätestens hier und jetzt ist sowieso Schluss mit Renntempo. Hier sieht’s ein klein wenig so aus, wie damals auf dem Truppenübungsplatz. Als Weg kann man das kaum bezeichnen. Aber egal, wir sind ja zum Spaß hier. „Ihr habt’s ja nicht anders gewollt“ würde die Holde sagen. Und ja – sie hat recht.
Nachdem wir Jungs nun ordentlich Gelegenheit hatten uns einzusauen, machen wir uns langsam auf den Weg in das Epizentrum des größten Bergpark Europas.
Ihr seht es: Die Wege werden zunehmend pittoresker. Irgendjemand hat mal behauptet, „pittoresk“ sei mein Lieblingswort. Das kann gut sein, es passt halt recht häufig zu den Orten, die mich beim Laufen umgeben.
Jetzt noch möglichst elegant die Kuhweide hinauf, und schon erreichen wir ziemlich genau zur Halbmarathon-Distanz das Wahrzeichen Kassels, den Herkules. Während Ron in dem dortigen Restaurant seine Flaks auffüllt, klingelt mein Telefon. Till ist dran und fragt, wann denn der Schlösser- und Burgen-Ultratrail sei. „Äh, heute!?“ antworte ich. Das träfe sich gut, denn er stünde gerade vor dem Herkules. Wann wir ungefähr vorbeikommen, will er noch wissen. „Sobald der Ron sein Wasser aufgefüllt hat“ antworte ich. Timing ist alles, oder?
Schade, dass der Junge mit dem Rad da ist. Sonst hätte ich ihn gezwungen, die restlichen Kilometer den Pacer zu mimen. Nun, er hat ja schon beim BiMa seine Schuldigkeit getan. Insofern: Alles gut. Zeit für ein gemeinsames Selfie war leider nicht mehr – ratet mal, wer ungeduldig war…
Verschätzt
Auf dem Weg zum Hohen Gras, dem höchsten Punkt Kassels (614 m ü. NN) und gleichzeitig auch dem höchsten Punkt der Strecke, sind wir so ziemlich genau bei der Hälfte der Distanz angelangt. Etwas mehr als 3 Stunden sind wir unterwegs. „Hmm, ich hatte zu Hause gesagt, dass ich nach 5 Stunden wieder da bin…“ grübelt Ron und greift zu seinem Telefon, um zu Hause Bescheid zu geben, dass es dann doch eher 6 Stunden werden. Mit mir als Klotz am Bein läuft es wohl eher auf 6:30 Stunden hinaus. Nun ja, verschätzt…
Mehr oder minder leichtfüßig laufen wir die Skipiste hinunter: Man mag es kaum glauben, aber vor einem Jahr standen wir ziemlich genau hier bis zu den Knien im Schnee. War auch schön.
Kurz vor dem Herbsthäuschen dürfen es noch lustige Wasserspiele sein. Die GoPro wartet regelrecht darauf, dass Ron auf dem glitschigen Nass eine Pirouette dreht, aber den Gefallen will er uns nicht tun.
Dafür läuft er für das folgende Foto tatsächlich noch mal kurz zurück(!). Wie befreiend (vom Zeitdruck her) der Anruf doch gewesen sein muss.
Von hinten
Ist euch aufgefallen, dass Ron auf den Bildern nur noch von hinten zu sehen ist? Das hat Gründe. Er möchte ständig schneller laufen, als ich es will bzw. kann. Lange geht unsere Zweisamkeit also nicht mehr gut. Bei Kilometer 30 bleibt Rons erster Versuch mich abzuschütteln noch erfolglos. Unser Duo hat noch ein wenig Trennungsschwierigkeiten.
Auf den Serpentinen hoch zum Asch ist jedoch endgültig Schluss. Weg isser. Ein klein wenig erinnert mich das an unser gemeinsames Rennsteig-Abenteuer – nur ohne Gedanken an eine Aufgabe. Obwohl – wenn ich ehrlich bin – sollte an der Löwenburg ein Taxi stehen, würde ich vielleicht einsteigen…
Nun, wie ihr selber sehen könnt: Es steht keins da. Das wäre ja auch wenig pittoresk (haha!). Jetzt, wo die Löwenburg nach langer Zeit ohne Gerüst und Baustelleneinrichtung dasteht, ist sie noch hübscher anzusehen als bisher.
Das dachte sich Sylke sicher auch, denn sonst müsste ich ihr eine leicht sadistische Streckenführung unterstellen. Den die führt hinter der Burg erst einmal bergab in die Wolfsschlucht, nur um dann unmittelbar auf Serpentinen wieder hinauf zum Burggarten zu gelangen. Alter, ey – doch nicht nach 34 Kilometern!
Kulturtrip
Hey, Leute. Das Ding hier und heute heißt nicht umsonst „Schlösser- und Burgen-Ultratrail“. Mit Trail ist auf den nächsten Kilometern zwar nix, dafür gibt’s aber umso mehr Steinhaufen formerly known as Schlösser und Burgen zu sehen. Will heißen: Es wird so ziemlich alles abgegrast, was im Bergpark Rang und Namen hat.
Natürlich geht es weiterhin auf und ab, denn im Bergpark wird wert auf den „Berg“ gelegt. Als Einheimischer ist man sich dessen bewusst, als Ultraläufer im fortgeschrittenen Erschöpfungsmodus vergisst man es mitunter.
Unten am Lac komme ich unerwartet in den Genuss eines VPs. Die Liebste eines anderen Läufers hat allerlei Getränke und Snacks parat. Für alle wohlgemerkt. Ist das nicht nett? Ich gönne mir zwei Becher Wasser und eine kurze Rast auf der Parkbank. Uh, das war ein Fehler – die nächsten Meter sind etwas hölzern.
Selbstredend geht es wieder bergauf zum Schloss, am Ballhaus und Gewächshaus vorbei, anschließend wieder hinab – wegen Umleitung – und schon wieder hoch. So langsam reicht das jetzt. Auch die Fotomotive sind außerhalb des Bergparks zwar noch vereinzelt vorhanden, animieren mich aber nicht mehr so recht anzuhalten. Ich will nur noch ins Ziel. Das ist aber lange noch nicht in Sicht.
Es wird zäh
Bis hoch zum Blauen See zieht sich die Strecke wie Kaugummi. Hier bin ich schon oft langgelaufen und daher weiß ich, was mich erwartet. Normalerweise ein lockeres Läufchen. Gerade pfeife ich aber mehr oder minder auf dem letzten Loch. Die heutige Wärme bin ich nicht gewohnt, das Langarmshirt hätte auch nicht sein müssen.
Nur gut, dass ich die Trinkblase mitgenommen habe. Ich werfe zwei Salztabletten ein, die aber auch nicht verhindern können, dass meine Beine langsam anfangen, mit dem ein oder anderen Krampf die Sache zum K(r)ampf werden zu lassen.
Dementsprechend hölzern kämpfe ich mich an der Künstlernekropole und der Firnskuppe vorbei. Ich erinnere mich an den Lauf vom letzten Jahr und den Berg kurz nach Heckershausen. Das kann ja heiter werden.
Endspurt
Ihr müsst nicht alles glauben, was hier steht. Von Spurt kann nämlich keine Rede mehr sein, allenfalls vom Ende. Von Heckershausen bis ins Ziel sind es lumpige drei Kilometer. Die längsten drei Kilometer meines Lebens. Als ich den Schlosspark von Wilhelmsthal einbiege, sind es genau 175 Meter, die für die 50 Kilometer auf der Uhr fehlen. Die gehen auch noch. Eine Runde ums Schloss und der Drops ist gelutscht.
Nach 6 Stunden, 37 Minuten und 27 Sekunden stoppe ich die Garmin. Das reicht immerhin für den Gesamtplatz 9 und den 1. in der AK. Auf dem Parkplatz wartet Nina auf mich. Sie hat tatsächlich den ersten Platz bei den Damen gemacht und war 43 Minuten eher im Ziel. Respekt!
Fazit
Ich erinnert euch an „die Blase“ von weiter oben. „Warum tust du dir denn sowas an?“ werde ich oft gefragt. Von Menschen außerhalb. „Na, weil’s Spaß macht!“
8 Kommentare
Comment by Thomas
Thomas 22. März 2023
Puh… davor kann ich nur den Hut ziehen. So schlecht kann Dein Training doch gar nicht gewesen sein, wenn Du so eine Strecke bewältigen kannst. Für mich unvorstellbar. Danke für den Bericht!
Comment by Martin
Martin 22. März 2023
Bei so Strecken ist viel Kopfsache dabei. Es hilft, sich das Ganze als Tagesausflug vorzustellen. Großartige Ambitionen auf eine Zielzeit hat man eh nicht, insofern ist das ein etwas längerer Wandertag.
Comment by Brennr.de
Brennr.de 22. März 2023
Sauber! Ja, die 50km hätte ich an Deiner Stelle auch noch vollgemacht. Allerdings kann ich von sowas derzeit nur träumen. Beeindruckend, dass Du solch eine Distanz abspulst, obwohl Dein Trainingszustand (angeblich) nicht ideal war. Scheint eine schöne Strecke zu sein. Die Bilder sehen zumindest toll aus. Aber jetzt gehe ich erst mal „pittoresk“ googeln…
Comment by Martin
Martin 22. März 2023
Die Strecke ist in der Tat genial. Da ist alles dabei, was das Herz begehrt.
Und? Fertig gegoogelt? Das passt doch mit dem pittoresk, oder?
Comment by ultraistgut
ultraistgut 27. März 2023
Habe ich es nicht schon immer gesagt: Ultra ist gut, da geht kein Weg daran vorbei, auch wenn man unterwegs geneigt ist, zu fluchen und/oder sogar auszusteigen (wir doch nicht !!). Hast du wieder gut gemacht, die Voraussetzungen waren auch nicht gerade von schlechten Eltern !!
Was mir auch gefällt, ist die Art deines Schreibens, sehr unterhaltsam, nett geschrieben, wenn auch seeeeeeeeeeeeeehr lang, aber – wie gesagt – kommt auf den Schreibstil an !!
Tja, warum“ tut man sich sowas an ? Ich weiß auch, warum !!
Comment by Martin
Martin 27. März 2023
Ja: Langer Lauf = Langer Text. Da müssen die Leserinnen und Leser durch. Etwas leiden muss eben jeder.
Danke dir.
Comment by Andreas
Andreas 17. April 2023
Na, für einen „mittleren Trainingszustand“ war das doch allererste Sahne, mal eben 50 Kilometer mit so vielen Höhenmetern zu laufen, tolle Leistung! Und da ich ja, wie du weißt, auch alle 5 Jahre mal eine Runde im Bergpark laufe, kann ich die Strapazen sehr gut nachvollziehen
Comment by Martin
Martin 17. April 2023
Naja, mein Anspruch ist, dass ich den Ultra von Anfang bis Ziel ohne Probleme durchlaufen kann. Insofern sind wir von der allerersten Sahne noch etwas entfernt. Am Wochenende steht der nächste Ultra an. Mal sehen, wie es da klappt.