Für den gestrigen Tag hatte ich mir zwei Dinge vorgenommen, die ich letztendlich nicht umgesetzt habe. Und ja – das ist gut so. Der Text dieses Beitrags wäre so zwar kürzer geworden, was wiederum auch seinen Reiz gehabt hätte. Schließlich wollt ihr hier ja nicht immer denselben Kram lesen. Nun ist es aber, soviel sei verraten, kein DNF geworden.
Zeitsprung: Morgens um 8 Uhr vor dem Schloss in Wilhelmsthal
Wie, was? DNF? Ja, tatsächlich (wie ich dieses Wort hasse) sind die Voraussetzungen am heutigen Tag einen Ultra zu laufen nicht besonders rosig. Es zwickt im Gebälk. Die ältere Generation kennt das. Vielleicht auch die jüngere, wenn sie ähnlich undiszipliniert mit dem Dehnen umgeht. Immerhin: Yoga. Yoga mache ich. Immer donnerstags. Als einziger Typ im Kurs. Letzten Donnerstag habe ich irgendeine Asana wohl wenig sorgsam ausgeführt, und seitdem habe ich Rücken. Kommt jetzt ungünstig, so zwei Tage vor einem der schönsten Ultras, die hier im Umkreis angeboten werden.
Schon letztes Jahr war ich beim Schlösser- und Burgen-Ultratrail dabei und habe den Termin für die diesjährige Auflagefest im Kalender stehen. Ein DNS kommt somit nicht in Frage, ein DNF ist in Anbetracht der Rückenschmerzen eventuell aber nicht vermeidbar. Ich beschließe, und hier wären wir beim Vorhaben Nr. 1, die ersten Kilometer für eine Bestandsaufnahme zu nutzen. Manchmal läuft sich sowas ja locker. Wenn nicht: Die GARMIN hat irgend so eine Funktion von wegen „Back to Start“ – habe ich nie genutzt, ist aber für heute eine Option.
Mimimi vorm Start
Nachdem sich also mehrere der hier am Start anwesenden Personen meine Leidensgeschichte anhören mussten, starten wir pünktlich um 8:00 Uhr in ein weiteres, diesmal waghalsiges Abenteuer. Tatsächlich (argh!) bin ich mit meinem Leiden nicht allein. Der Thomas a.k.a. Trail Therapeut klagt über beinahe identische Schmerzen. Ob die ebenfalls aus einer missglückten Asana resultieren, habe ich leider vergessen zu fragen.
Während wir uns auf den nächsten paar Kilometer wie zwei Rentner auf der Parkbank über unsere Gebrechen austauschen, sind die ersten Hochkaräter schon außer Sichtweite. Mich dünkt, da hat jemand weitaus mehr Jahreskilometer auf dem Tacho. Nun, von nüscht kommt nüscht.
Als ich mich gerade am Anblick eines Regenbogens erfreue, tritt mich gefühlt das passende Einhorn ins Kreuz. Aua, das war das ISG, oder? Wo war gleich die Funktion auf der Garmin? Ach, komm. Ein paar Kilometer gehen noch. Und wenn nicht – Sylke, die Organisatorin des heutigen Spektakels, läuft direkt neben mir. Da kann ich mich höchstpersönlich abmelden, wenn es soweit ist. Vorher jedoch muss auch sie sich meine Leidensgeschichte anhören, und da die nicht lang genug ist, krame ich noch ein paar ältere Geschichten aus der Läuferklamottenkiste.
Na sowas, ist das nicht Weg hoch zum Dörnberg? So weit sind wir schon? Gar nicht schlecht, wenn man ein so großes Leidensrepertoire zum Besten geben kann – da vergeht die Zeit wie im Flug. Letztes Jahr war es hier übrigens genauso matschig. Und da es letzte Nacht ordentlich geregnet hat, wird diese Schlammpackung nicht die letzte des Tages sein.
Ich hatte noch gar nicht erwähnt, dass der heutige Lauf einige Höhenmeter zu bieten hat. Und zwar 1418, wenn die GARMIN nicht lügt. Ein nicht unwesentlichen Beitrag dazu liefert das Erklimmen des hohen Dörnbergs. Zur Belohnung gibt es hier nicht nur eine grandiose Aussicht, sondern auch ordentlich frische Luft, angereichert mit einer erhöhten Feuchtigkeit, besser bekannt als Regen.
DNF ist keine Option
Ziemlich genau hier beschließe ich endgültig, dass das Thema DNF für den heutigen Tag keine Option mehr sein soll. Der Rücken ist mitterweile willig. Anscheinend hat das aktive Dehnen der hinteren Muskelkette postive Auswirkungen auf den Bewegungsapparat gehabt.
Für diese Entscheidung gibt’s den Daumen hoch von der Chefin persönlich. Mit dieser unbedachten Geste hat sie sich unwissentlich ganz schön etwas eingehandelt. Das ist absolut der Ansporn, mich an ihre Fersen zu heften. Schließlich laufe ich nicht gerne alleine…
Schreiend durch den Wald. Oder auch nicht.
Somit kommen wir nun zu meinem Vorhaben Nr. 2. Für den Fall der Fälle, dass ich mich auf den 50 Kilometern alleine durch die Landschaft hätte quälen müssen, habe ich mir Inspiration geholt. Und zwar bei keinem Geringeren als dem Barkley Marathon Finsiher #17, Karel Sabbe.
In der sehenswerten Videodoku über den letztjährigen Lauf verrät er den Trick, wie er sich wieder zurück ins Rennen holt, wenn er kurz vor dem Einschlafen ist. Soweit, dass ich vor Müdigkeit kollabiere, wird es heute zwar nicht kommen, aber schreiend durch den Wald zu rennen, hat durchaus etwas Befreiendes. Allerdings dürfte es Sylke sicher etwas suspekt vorkommen, daher lasse ich das besser.
Tatsächlich (grrrr) weine ich aber weder dem DNF noch dem Schreien hinterher. Eher erfreue ich mich daran, dass es bis hier – wir sind gerade bei der Halbmarathon-Distanz angelangt – durchaus rund läuft. Wer hätte das gedacht?
Bodenkontakt
Im Nachhinein betrachtet geht das folgende kleine Missgeschick als Slapstick-Einlage durch, aber uiuiui – das hätte auch ganz böse enden können. Okay, ich übertreibe. Auf alle Fälle war es keine gute Idee, statt der Treppe die Rasenfläche nutzen zu wollen, die runter zur Aussichtsplattform des Herkules Bauwerks führt. Diese Millisekunden des freien Falls kommen einem immer länger vor, stimmt’s? Nun, jedenfalls lag ich rücklings im Matsch.
Wie ich im Nachhinein erfahren habe, hat den Salto rückwärts beinahe das komplette Starterfeld mitbekommen. Keine Ahnung wie, denn ich habe niemanden von denen dort oben gesehen. Aber egal – vielleicht gab’s ein RTL Spezial, von dem ich nichts mitbekommen habe.
Wenn man der Aktion etwas Gutes abgewinnen will, dann ist es die gebotene Vorsicht, die ich ab dort auf dem Rest der Strecke walten lasse. Schon ein paar Meter weiter, auf dem Weg zu den Golfwiesen, ist es erneut so dermaßen rutschig, dass man bequem auch mit der Poporutsche vorankommen würde. Okay, das lassen wir besser. Reicht schon, wenn die noch fast neuen Altras aussehen, wie Trailschuhe eigentlich aussehen müssen.
Das Höhenmetermassaker nimmt seinen vorläufigen Höhepunkt, als wir das hohe Gras und dessen Aussichtsturm erreichen. Anders gesagt – ja, das ist der höchste Punkt der Strecke. Von hier aus geht’s fast nur noch bergab.
Ab jetzt wird’s lapidar
Nach ziemlich genau 30 Kilometern erreichen wir das Porta Lapidaria, ein pittoreskes(!), steinernes Tor aus Basaltfelsen. Nur noch 20 Kilometer bis ins Ziel. Hört sich wirklich ziemlich lapidar an, oder?
Gleich folgt allerdings der Part, an dem ich mit Sicherheit meine Trailstöcke aus dem Köcher zerren werde. Die Serpentinen hoch zum Asch sind nämlich weniger lapidar, erst recht mit den bereits gelaufenen Kilometern in den Beinen. Dort oben angelangt, erwarten uns zwar die kulturellen Highlights des Laufs, aber für mich als Einheimischen, der den Bergpark bereits zur Genüge kennt, ist der Anreiz vielleicht nicht ganz so groß.
Ja klar, die Löwenburg ist sehr imposant, erst recht nach der Fertigstellung des Bergfrieds. Innerlich brennt sich allerdings gerade das restliche Höhenprofil auf meiner Hirnrinde ein. Sind noch ein paar vertikale Meter bis ins Ziel.
Die Ablichtung des Fontänenteichs und des Schlosses darf man gerne als Serviceleistung des Verfassers betrachten. Schließlich soll das hier keine reine Textwüste sein.
’s schigged
Nun ist es nicht so, dass die verbleibenden Kilometer bis ins Ziel keinerlei Sehenswürdigkeiten zu bieten hätten. Da wäre beispielsweise die Künstler-Nekropole oder die feinen Trails rund um das Erlenloch. Dennoch bin ich mit Sylke einer Meinung – ’s schigged so langsam, wie der Kasseläner sagt. Allmählich ist das gute Bier alle. Selbiges ist übrigens auf dem Rest der Strecke mehrfach Teil des Gesprächsstoffes. Während Sylke selbstverständlich die alkoholfreie Variante präferiert, sehne ich mich nach einem Weizen mit Umdrehungen.
„Macht mal hinne. Die da vor euch haben schon ein Stunde Vorsprung“ brüllt uns ein Arbeiter aus einer Werkstatt kurz vor dem Kammerberg hinterher. So sieht Motivation aus, sag ich euch. Als der derzeitige Weltmeister der Kurzdistanz Sofa-Kühlschrank kann er sich das durchaus erlauben. Gefühlt ist nun der letzte Anstieg ein Klacks. Bergab, hinunter bis zum Schlosspark, wird es tatsächlich (grmpf) nochmal extrem matschig. Die Stöcke, die ich auch dort einsetze, retten mich vor einem erneuten Bodenkontakt.
Auf dem (Um-)Weg zum Schloss säumen tote Tiere unseren Weg. Vorsichtshalber schaue ich noch mal genauer nach, ob nicht auch ein ausgestopfter Läufer dabei ist. Das allerdings ist nicht der Fall.
Und so nehmen wir die letzten zehn Höhenmeter in Angriff. Ich Depp dachte, der Schlosspark wäre topfeben. Das hätte echt nicht mehr sein müssen. Der Weg außen an der Mauer entlang war doch auch schön.
Grüße vom Sofa
Und schon wieder ein Zeitsprung. Gerade liege ich hier rücklings auf dem Sofa und schreibe die letzten Zeilen dieses Beitrags. Die Beine sind noch etwas beleidigt, aber der Rücken, der gestern vor dem Lauf noch doof rumgezickt hat, ist wider Erwarten gnädig. Da soll doch nochmal einer behaupten, Ultralaufen hätte keine therapeutische Wirkung. Oder Thomas?
Vielen Dank an Sylke für die Organisation des Laufs und die Betreuung auf der Strecke. Full-Service sozusagen. Hat man auch nicht immer.
6 Kommentare
Comment by Eddy
Eddy 18. März 2024
Wieder einer dieser wunderbaren Berichte, die ein Kribbeln erzeugen. In den Füßen. Im Bauch. Im Kopf. Und ein Lächeln zaubern. Respekt, Martin: du hast es einfach drauf. Also das Laufen und das Bloggen, meine ich. Ich gratuliere zweifach!
Herzliche Grüße,
Eddy
P.S. Notiz an mich: Yoga macht Rücken.
Comment by Martin
Martin 18. März 2024
Oh, lieben Dank für die netten Worte.
ich würde ja liebend gerne mal wieder von einem Bloggercamp berichten. So ein Event müssten wird dringend mal wieder auf die Beine stellen, oder? Gerne auch mir einer abendlichen Yoga-Session – vor dem Grillen.
Comment by Oliver
Oliver 20. März 2024
Schöne Nummer, schöne Strecke, schön durchgezogen, gratuliere!
Und das mit dem Schreien ist nicht so doof, hab ich früher (als ich noch viel fahren musste) immer gerne im Auto bei langen Fahrten gemacht. Bei offenem Fenster natürlich damit alle was davon haben. Funktioniert tadellos. Im Wald bestimmt auch
Comment by Martin
Martin 20. März 2024
Danke dir, Oliver.
Das mit dem Schreien beim Autofahren mache ich auch auf kurzen Strecken. Hat aber weniger was mit der Müdigkeit, sondern mit dem Unvermögen anderer Verkehrsteilnehmer zu tun.
Comment by Andreas
Andreas 20. März 2024
Vielleicht sollten Ultratrails bei Rückenbeschwerden endlich zur Kassenleistung werden. Für all die Menschen, die auf das fiese Yoga reingefallen sind Aber eigentlich war das ja andersherum… In Kassel und Umgebung steht die Welt Kopf!
Comment by Martin
Martin 20. März 2024
Du musst vor allem mal das Preis-Leistungsverhältnis im Vergleich mit einer Yoga-Session beachten. Hier habe ich für 5 EUR Startgeld 6:35h Vergnügen bekommen. Eine Stunde Yoga kostet mich sage und schreibe 8 EUR!