Es ist Sonntag, der 16. September 2018. Die ganze Welt schaut zu, wie beim Berlin Marathon Eliud Kipchoge einen neuen Weltrekord aufstellt. Die ganze Welt? Nein. Ein vergleichbares Spektakel in eimem kleinen hessischen Dorf namens Kassel lockt früh morgens den ein oder anderen Läufer an die Startlinie und eine beschauliche Menge Zuschauer zum Anfeuern an den Straßenrand. Die Ideallinie ist hier nicht blau, sondern grün. Auch sonst ticken die Uhren hier ein wenig anders. Aber lest selbst…

Kassel Marathon 2018

Noch herrscht Ruhe im Auestadion. Doch das soll sich bald ändern. Spätestens, wenn die ersten Läufer des Halbmarathons das Rund erreichen.

„Wie schnell willst du denn heute laufen?“ Diese Frage höre ich am Tag X nicht nur einmal. Zwischen Wollen und Können liegt bekanntlich ein kleiner Unterschied. Als Option steht einen auf dicke Hose zu machen und die Bestzeit in Angriff zu nehmen oder meinen vorerst letzten Straßenmarathon gemütlich anzugehen und irgendwo Sub 4:00 anzukommen.

Kassel Marathon 2018

Kurz vor dem Start ist von Hektik noch keine Spur. Kein Vergleich zu Berlin oder Frankfurt.

Ihr ahnt es schon. Ich entscheide mich für die dicke Hose. Mein Laufbuddy Walter will sich hinter dem 3:29 Pacemakern einreihen. Da meine PB von 3:28:47 in unmittelbarer Nähe liegt, kann ich ja gar nicht anders, und so stehen wir gemeinsam um kurz vor 10 Uhr am Start des Kassel Marathon 2018. Thomas ist auch in unserem Team, will sich aber kurz nach dem Start zurückfallen lassen, denn sein heutiger Marathon ist nur ein Vorbereitungslauf für den Taubertal 100. Kann man so machen.

Der Start

Kassel Marathon 2018

Winfried „Aufi“ Aufenanger und die Justizministerin Eva Kühne-Hörmann plaudern noch ein wenig, während die Meute schon mit den Laufschuhen scharrt.

Es ist 9:57 Uhr. Wäre Kassel Berlin, würde jetzt Alan Parsons „Sirius“ für Gänsehaut am ganzen Körper sorgen. Kassel ist aber nicht Berlin. Statt stimmungsvoller Musik hört man Aufi mit der Justizministerin plaudern. Kurz vor dem offiziellen Start fällt ihm dann doch noch ein, dass er schnell ins Führungsfahrzeug hüpfen muss – Same procedure as every year. Ein wenig Situationskomik hat der heimische Marathon ja schon zu bieten, das muss man zweifelsohne zugeben. Die Zeit reicht gerade noch um von 10 bis 0 runter zu zählen und ab geht’s.

Läuft!

Unsere Pacer sind alte Hasen. Drahtig, kein Gramm Fett – einer der beiden erzählt, dass er dieses Jahr wohl nur 4000 statt der üblichen 7000 km laufen wird. Der andere plaudert aus dem Nähkästchen. Kein Marathon sei wie der andere. Der Schönste wäre der in Leipzig gewesen, wo er Dritter wurde. Okay, ich bin beeindruckt und hoffe, dass ich mich nicht vollends blamiere, wenn ich die Pace nicht mehr mithalten kann.

Bei Kilometer 8 wartet die Holde mit dem Nachwuchs auf mich. Deren Einsatz belohne ich mit einem verschwitzten Küsschen. Ein paar Meter rennen die Beiden mit uns mit. Der Sohnemann ist erstaunt, wie schnell doch die Pace ist, mit der wir gerade unterwegs sind. Tja, da macht der Alte dem jungen Kerl noch was vor. Ha!

Die weitere Strecke führt zunächst durch Kassels Osten. Nicht gerade die schönste Gegend, aber irgendwie muss man die 42,195 Kilometer ja unterbringen. Die Halbmarathonmarke ist am Wolfsanger geknackt. 01:43:41 – passt perfekt. Kurz danach nimmt das Elend seinen Lauf…

Läuft nicht!

Habe ich mich verzockt? Lag’s am Gel oder an den Salztabletten, von denen ich vielleicht zu viel eingeworfen habe? Oder vielleicht doch daran, dass ich mal wieder ohne Trainingsplan trainiert habe? Wie auch immer – bei Kilometer 25 war mein Magen plötzlich kein Fan mehr von dem, was meine Beine und mein Kopf noch vor hatten.

Wie aus dem Nichts steht plötzlich die Holde am Straßenrand. Das trifft sich perfekt – niemandem kann ich mein Leid besser klagen, als ihr. „Ich habe keine Lust mehr. Ich laufe jetzt mit dir wieder zurück nach Hause!“ jammere ich. „Nichts da, sind doch nur noch 16 km. Das schaffst du auch noch.“ erwidert sie und gibt mir einen Schubs. Die Zuschauer um uns lachen – wenigstens die können es noch.

Die Kasseler Nordstadt liegt vor mir. Vielleicht nicht unbedingt der schönste Part der Strecke. Auch das noch. Ich kämpfe mich von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt. Doch mein Magen mag sich noch immer nicht beruhigen. Inzwischen zieht Thomas an mir vorbei. In einer Seelenruhe, als wäre er schon auf dem Weg zum Taubertal. Ohne Zwischenstop.

Vor mir scheint plötzlich ein Läufer dem Zusammenbruch nahe. „Alles klar bei dir?“ frage ich ihn. „Ich hab einen Krampf im Oberschenkel!“ ächzt er. Der letzte Ersthelferlehrgang liegt noch nicht lange hinter mir, aber selbst in dem lernt man nicht, was in einem solchen Fall zu tun ist. Ich haue ihm beide Daumen in den hinteren Oberschenkel und drücke zu. Er entspannt. „Danke, du hast mir gerade das Leben gerettet!“

Nach dieser guten Tat weiß ich, dass selbst bei einer Aufgabe der Marathon noch etwas Gutes haben wird. Mindestens bis zum nächsten Staffelwechselpunkt will ich es schaffen. Von dort kann ich zur Not mit dem Shuttle-Bus zurück ins Stadion. Doch irgendwie läuft es auf einmal wieder einigermaßen, so dass ich beim nächsten Hänger kurz vor der berühmt berüchtigten Zentgrafenstraße schon längst an dem Punkt vorbei gelaufen bin.

Der Tiefpunkt

„Pah, ich als alter Bergläufer – für mich ist die Ecke doch ein Witz!“ habe ich immer geprahlt. Ausgerechnet bei KM 36, da wo einem im Allgemeinen der Mann mit dem Hammer erwartet, geht es in Kassel ins Eingemachte. Hier ist der Grund, wieso in Kassel niemals Bestzeiten gelaufen werden, denn hier geht es bergauf. Zwar nur leicht, aber bei einem Straßenmarathon ist das die Kategorie „Wand“.

Ich gehe. Die einzige Motivation derzeit sind die kleinen Kinder, die am Straßenrand stehen und abgeklatscht werden wollen. Allerdings von Läufern, die laufen und nicht gehen. „Los, Martin. Nicht aufgeben. Du schaffst das!“ rufen sie. Da muss Mann einfach drauf hören. Ich renne weiter. Jetzt ist es auch nicht mehr weit. Außerdem geht es von nun an bergab. Die Friedrich-Ebert-Straße liegt vor mir. Ein Hot-Spot und Zuschauermagnet. Wenn es hier die vielen Menschen rund um die Kneipenmeile nicht schaffen, mir den letzten Kick zu geben, dann wird es nichts.

Endspurt

Aber es wird. Die jubelnde Menge liegt gerade hinter mir, da muss ich schon wieder gute Miene zum bösen Spiel machen. Mein Arbeitskollege steht an der Strecke und macht Beweisfotos, die spätestens am nächsten Arbeitstag entweder mein Leiden oder meinen Spaß an der Sache im Intranet der Firma dokumentieren werden. Lachen, Martin. Lachen. Daumen hoch und auf den Laufstil achten…

Kassel Marathon 2018

Kilometer 38. Die Frisur sitzt und das Lächeln ist noch nicht einmal aufgesetzt, denn bald ist das Ziel greifbar nahe. (© Uli I.)

Und das alles bei Kilometer 38. Mir bleibt auch nichts erspart. Kaum bin ich aus dem Sichtfeld des Observators heraus gelaufen, nehme ich erneut einen Gang raus. Im Königstor erwartet mich der erste Verpflegungspunkt, bei dem man Cola tanken kann. Zuvor will der Moderator, der an dem Punkt für Stimmung sorgt, von mir wissen, wie es mir geht. „Sch…“ gebe ich ohne zu lügen von mir und schnappe mir einen großen Becher von der braunen Zuckerplörre. Doch die bekommt mir gar nicht gut. Kurz vor der Wilhelmshöher Allee wäre es fast soweit gewesen, dass ich mir das Getränk nochmal durch den Kopf gehen lassen musste.

„Hey, Martin. Jetzt mach nicht blöd. Du hast es gleich geschafft!“ mache ich mir Mut. Vielleicht sollte ich Mentalcoach werden, denn es klappt. Mit einer 5er Pace renne ich den letzten Kilometer bis ins Stadion. Mich begrüßen jubelnde Zuschauer, wummernde Beats und Kai Völker von hr1, der mich bereits das dritte Mal bei einem Marathon im Ziel erwartet. Zweimal in der Frankfurter Festhalle und nun hier im Auestadion.

Zieleinlauf

Los, Martin. Wenigstens ein klein wenig Jubel muss schon sein. (© Sebastian Lammel / HNA)

Zieleinlauf

Na also, geht doch… (© Sebastian Lammel / HNA)

Knapp unter vier Stunden, mit einer 3:57:09 laufe ich durch das Ziel. Keine große Euphorie. Nicht zu vergleichen mit meinem ersten Marathon oder meinem ersten Ultra. Aber das ist vielleicht auch gut so, denn sonst hätte ich mir das mit meinem letzten Marathon auf der Straße womöglich noch anders überlegt…

Für’s Protokoll: Walter kam übrigens fast mit den Pacern ins Ziel, Thomas acht Minuten vor mir.

Die Strecke des Kassel Marathon 2018 (zum Mitleiden)

14 Kommentare

  1. Comment by Wolfgang aka HiSpace

    Wolfgang aka HiSpace Antworten 21. September 2018

    Getreu dem Motto von James Bond: Sag niemals nie

    • Comment by Martin

      Martin Antworten 22. September 2018

      …oder nach dem Motto: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“ :hehehe:

      Lass mich erst mal ein paar Läufe im Wald gerannt sein. Wenn es mich dann noch mal gelüstet, bei einem Straßenmarathon mit zu rennen, dann ist es eben so.

  2. Comment by Eddy

    Eddy Antworten 22. September 2018

    Respekt, dass Du das Ding trotz innerlicher Rebellion durchgezogen hast!!

    • Comment by Martin

      Martin Antworten 22. September 2018

      Es blieb mir ja nix anderes übrig. Hatte kein Geld für ein Taxi dabei. :D

  3. Comment by ultraistgut

    ultraistgut Antworten 22. September 2018

    Sag‘ ich doch , aufhören kann jeder, sei froh, dass du es nicht getan hast, du hättest es bereut – und beim nächsten Mal BESTZEIT, bei der 10-Kilometer-Zeit müsstest du doch locker 3:15 laufen können , wetten ?

    • Comment by Martin

      Martin Antworten 22. September 2018

      Nee, nee. Ich schrieb ja kurz nach meinem ersten Ultra, dass ich mit der Bestzeitjagd beim Marathon aufhören möchte. Das hier war im Prinzip der Beweis, dass ich damit richtig liege. Der Ultra hat viel mehr Spaß gemacht. Laufen, ohne dauernd auf die Pace achten zu müssen – das hat schon was!

  4. Comment by ultraistgut

    ultraistgut Antworten 22. September 2018

    Zu diesem Entschluss kann ich dir nur gratulieren, das tue ich schon seit…………………..

  5. Comment by Jens

    Jens Antworten 25. September 2018

    Wie bereits an anderer Stelle geschrieben: Ich finde es sensationell, was du so durchziehst und was das Laufen aus dir gemacht hat. Authentisch, eigener Anspruch, Spaß – das, was Laufen einem sein sollte! Toll, dass du das Ding durchgezogen hast.

    • Comment by Martin

      Martin Antworten 26. September 2018

      Lieben Dank, Jens. :)

      Authentisch? – Ja, immer.
      Eigener Anspruch? – Der variiert manchmal. Das ist ok. Vor allem in dem Alter.
      Spaß? – Macht es zu 99%.

  6. Comment by Tobias

    Tobias Antworten 27. September 2018

    Quasi ohne Vorbereitung eine Bestzeit laufen, geht wohl eindeutig leichter auf 10 als auf 42km ;-)
    Trotzdem Glückwunsch zur soliden Leistung – dass du den Marathon beendet hast :-) deiner Beschreibung nach hätten die meisten sicherlich unterwegs irgendwo aufgegeben … besonders bei dem sympathischen Streckenprofil!

    • Comment by Martin

      Martin Antworten 27. September 2018

      Danke Tobias. Der Gedanke ans Aufgeben bestand ja nur kurz. Und spätestens, wenn man imaginär nur noch die „kleine Hausrunde“ (als ca. 5 km) vor sich hat, dann läuft es auch wieder. Zumindest mental.

  7. Comment by Peter

    Peter Antworten 28. September 2018

    Hi,
    erstmal Kompliment für deinen Blog, den ich sehr gerne lese. Insbesondere deine Produkt-Tests mag ich.
    Wäre es möglich, dass du den „Running Dynamics Pod“ von Garmin testen könntest und deine Erfahrungen hier teilst?
    Besten Dank im Voraus für deine Antwort.
    Viele Grüße
    Peter

    • Comment by Martin

      Martin Antworten 30. September 2018

      Hallo Peter. Danke für das Kompliment.
      Zu deiner Frage: Meine Fenix 3HR ist mit dem Running Dynamics Pod nicht kompatibel. Von daher kann ich mit keinem Test behilflich sein. Es sei denn, du bist von Garmin und die Frage war so gemeint, dass du mir Testmaterial liefern kannst. ;)

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