Vor rund einem Jahr hatte ich noch behauptet, meinen letzten Straßenmarathon laufen zu wollen. Ganz nach dem Motto „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ stand ich auch dieses Jahr beim Kassel Marathon am Start. Als inoffizieller Laufbotschafter in der Firma sozusagen eine Pflicht. Nun ja, was tut man nicht alles für die Fitness der Kollegen.
Apropos Fitness. Ich bin ja bekanntermaßen kein großer Freund von Trainingsplänen. Das war bei den ersten beiden Marathons noch anders. Da habe ich mich, abgesehen von den Intervallen, noch an dem Plan vom Steffny orientiert. Zudem war ich damals noch etwas disziplinierter, was die Ernährung anbelangt. Sprich: ich hatte 4-5 kg weniger auf der Waage. Lange Rede, kurzer Sinn – was ich damit sagen will: an meine Bestzeit von 3:28:47 werde ich so nie wieder rankommen. Zumindest nicht, solange ich so ein fauler Sack bin.
Mit Hühnern und Brüdern am Start
Mit einer derartigen Erwartungshaltung geht man natürlich maximal entspannt in den Startbereich eines Marathons. Abgesehen von ein paar muskulären Problemen, die mein Physio sozusagen auf den letzten Metern vor dem Marathon beheben konnte, geht’s mir prima. Die Stimmung eskaliert, wenn man von aufgeregten Hühnern Marathonnovizinnen und lang vermissten Weggefährten aus der meditativen Versenkung geholt wird.
Wie schon im letzten Jahr wird klar, dass der Kassel Marathon seinen eigenen Charme hat. Wenn es nach der Menge der Teilnehmer geht, müsste er Kassel Halbmarathon heißen. Die Menge des Feldes ist extrem überschaubar. Vorn an der Linie steht das Grüppchen der Eliteläufer und dahinter sammeln sich die grünen Startnummern der Staffel und die lilanen der Marathonies.
Vor lauter Gesabbel und Selfiemacherei verpassen wir beinahe den Start. Wir? Ach so – darf ich vorstellen? Angela läuft zum ersten Mal den Marathon. Ich versuche gerade den Grad ihrer Anspannung zu beschreiben, aber mir fällt kein passender Superlativ ein.
Und dann wären da noch die Jungs. Ferenc und sein Bruder Dezsoe. Letzterer läuft auch zum ersten Mal die 42 Kilometer. Die beiden stehen unter Beobachtung der Presse, nachdem ihre Strory des wiedergefundenen Familienglücks die Runde gemacht hat.
Wo war ich stehen geblieben? Ach so, ja. Beim „wir“. Wir einigen uns darauf, dass wir gemeinsam hinter dem 3:44er Pacer herlaufen. Ich für meinen Teil wäre mit dieser Zeit mehr als zufrieden, allerdings fürchte ich, dass mir ab KM 30 wieder mein Rücken Probleme machen wird. Insofern wird es wohl eher eine 3:59. Allein vom guten Vorsatz gibt’s eben keine Muskeln. Das mal so als Tipp eines mittlerweile halbwegs erfahrenen Marathonläufers.
Läuft!
Die ersten Kilometer eines Marathons zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass ich zunächst ständig abchecke, welche meiner Wehwehchen zu einem späteren Desaster führen könnten. Aber da ist nix. Komisch, liegt vielleicht aber daran, dass ständig für Abwechslung gesorgt ist. Als Highlight Nr. 1 steht am VP bei KM 7,5 der Sohnemann mit der Holden zwecks Anfeuerung parat. Hach! Highlight Nr. 2 folgt nur zwei Kilometer später: vor uns schert ein Pacecar ein, in dessen Kofferraum mit offener Heckklappe ein Kamerateam sitzt. Ihr erinnert euch an die Brüdergeschichte? Nun ja, ich bin mit im Bild und demzufolge am Abend in der Hessenschau zu sehen.
Immer der (fast) grünen Linie nach!
Nach der Lilienthalstraße geht es ab in die Sandershäuserstraße und von dort aus in die schönsten Ecken von Kassel. Okay, nicht so ganz. Auf alle Fälle immer der grünen Linie nach. Zumindest was von ihr übrig ist. Denn im Gegensatz zum letzten Jahr gab’s diesmal keinen neuen Anstrich. Wenn ich richtig informiert bin, war man wohl im Rathaus der Meinung, dass die Überreste aus 2018 ausreichend sind. Hat dann aber wohl doch nicht so ganz funktioniert.
Marcel Bräutigam, der deutsche Topläufer, wurde hier ein paar (viele) Minuten vor uns, auf Platz 6 liegend, von einer Ordnerin auf den falschen Weg geleitet. Das kostet ihn 600 Meter oder umgerechnet ca. 2 Minuten. Ich hab Marcel nach dem Rennen mal zu der Aktion befragt. Seine Antwort:
„Die Green Line hätte auf jeden Fall geholfen, doch diese durfte in diesem Jahr nicht erneuert werden und war an dieser Stelle leider nicht zu sehen.“
Dumm gelaufen, für Marcel und für Kassel. Vor allem nach der Aktion von 2017. Bleibt zu hoffen, dass nächstes Jahr mal wieder der Pinsel neue Farbe auf den Asphalt bringt.
Es wird zäh…
Nach dem Wendepunkt am Wolfsanger fängt dann der Part des Rennens an, an dem ich merke, dass es so langsam zäh im Getriebe wird. Neben uns taucht Till auf, der zwar nicht mit im Rennen dabei ist, aber heute seinen letzten langen Lauf für seinen Start beim Berlin Marathon absolviert und dabei ordentlich Bildchen von uns macht. Zum Beispiel das hier…
Ein paar Fotos später steht plötzlich die Holde am Katzensprung und sorgt für zusätzliche Motivation. Mensch, das läuft ja heute besser als gedacht. Selbst beim nächsten Wendepunkt bin ich im Gegensatz zum letzten Jahr noch laufend unterwegs. Mittlerweile musste ich Angela ziehen lassen, Ferenc und Dezsoe liegen hinter mir. Ich muss mich also alleine durchkämpfen.
Läuft (doch) nicht!
Beim nächsten VP in der Mombachstraße ist erst mal der Ofen aus. Ich lege eine Gehpause ein. Wie so oft bei einem Marathon folgt die Stelle, wo man sich fragt, wozu man den Unsinn macht und ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn man am Staffelwechselpunkt, der gleich folgt, den Shuttlebus zum Ziel nimmt. DNF hört sich als Ergebnis allerdings scheiße an, insofern renne ich weiter. Sagte ich rennen?
Laufen. Gehen. Laufen. Gehen. Ich hab’s geahnt. Ich schwöre! Keinen Marathon mehr ohne vorheriges Stabitraining. WIRKLICH! Kann ich das irgendwo bei einem Notar hinterlegen?
Kein Bier für Sub4
Von hinten rücken Ferenc und Dezsoe auf und überholen mich. Nun ja, glücklicherweise ist bald nicht nur der Höhepunkt des Streckenprofils erreicht. Auch das Ranking in Sachen Stimmung wird bei Joe’s Garage am oberen Ende liegen. Und es gibt Bier für mich. Echtes. Hat mir mein Namensvetter Martin versprochen. Diese Aussicht wirkt anscheinend so motivierend auf mich, dass ich in der Friedrich-Ebert-Straße plötzlich wieder im Stande bin, eine ordentliche Pace hinzulegen und Dezsoe und Ferenc wieder zu überholen. Vom Bier bekomme ich allerdings nur einen Schluck runter, denn das Becks schäumt scheinbar vor Glück, als es mich sieht. Egal, denn die Uhr sagt, dass eine Sub 4 noch im Rahmen des Möglichen ist. Ich gebe also alles…
Im Endspurt zur Punktlandung
Angepeilt war eine Zeit zwischen 3:45 und Sub 4. Im Ziel war ich nach 3:59:50. Wenn das mal keine Punktlandung war. Dafür musste ich auf den letzten Kilometern der Menzelstraße aber auch alles geben, so dass ich nach dem Überqueren der Ziellinie nicht genau wusste, in welche der bereitstehenden Mülltonnen für die Getränkebecher ich kotzen sollte. Keine Sorge – ich habe es mir dann doch noch verkniffen.
Zielbier
Das Beste im Ziel ist ja immer noch das gemeinsame Bierchen. Auf der Wiese treffe ich die Jungs und meine Kollegen, nur Angela ist vor lauter Glück über ihr erstes Finish schon aus dem Stadion geflüchtet. Da hat sie was verpasst, denn hier in der Sonne zwischen all den glücklichen Menschen liegt es sich prima, sag ich euch. Nach ein paar Bechern gönne ich mir noch eine Massage (aua!) und mache mich dann auf Heimweg. Kalorien nachfüllen beim Inder steht auf dem Plan…
2 Kommentare
Comment by Tobias
Tobias 25. September 2019
Hi Martin,
für einen Lauf, den es eigentlich gar nicht hätte geben sollen/dürfen und entsprechend auch kein passendes Training vorher, ist das doch ein sehr beachtliches Resultat gratuliere!
Noch mehr Spaß macht natürlich wie üblich, den schön geschriebenen Beitrag zu lesen
Verregnete Grüße aus Belgien,
Tobias
Comment by Martin
Martin 26. September 2019
Vielen herzlichen Dank, Tobias.
Ja, mit dem Resultat kann ich durchaus leben. Alles andere als eine Katastrophe, die es durchaus hätte werden können. Aber das ist nunmal ein Marathon – da kann alles passieren. Auch mit passendem Training.