Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr jetzt diesen Beitrag lesen könnt, war nicht besonders hoch. Noch wenige Tage vor dem Event war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich an den Start gehen soll. Die muskulären Beschwerden, die mir schon den Ultra beim BiMa vermasselt haben, waren immer noch nicht ganz ausgestanden. Aber Scheiß drauf – Rennsteig ist nur einmal im Jahr!
Habt ihr auch gemerkt, dass die letzten Laufberichte immer mit meinen Leiden beginnen? Nun, kommt mal in mein Alter. Und außerdem: Ich weiß, ihr wollt es doch auch. Es muss schließlich seinen Grund haben, dass das Gejammer im Beitrag vom Supermarathon 2022 so unverschämt gut angekommen ist. Nur aus dem Grund dachte ich mir: Hey, Martin. Da legst du nochmal ein Schippchen drauf. Here we go…
Kein Lauf ohne Buddy. Oder doch?
So ein Ultra ist natürlich kurzweiliger und einfacher zu bewältigen, wenn man einen Buddy zur Seite hat. Die beiden Jungs, mit denen ich mich am Freitag auf den Weg zur Kloßparty mache, scheiden jedoch definitiv aus für diesen Job. Mal abgesehen davon, dass ich meinen dritten Supermarathon unter suboptimalen Bedingungen angehen werde, sind die zwei eh um Lichtjahre zu schnell für mich. René hat kürzlich den Bilstein Ultramarathon gewonnen, wenn ich das kurz in Erinnerung rufen darf, und Ferenc stand dort auch schon auf den obersten Podestplätzen. Vergessen wir das also mit dem Buddy. Allein leiden ist eh entspannter.
Die Kloßparty ist Teil der Tradition. Keine Ahnung, ob das in Sachen Carboloading die optimale Variante ist, aber wenn es seit nun 51 Jahren so praktiziert wird, kann es so verkehrt nicht sein. Zugegeben schmeckt es tatsächlich auch, und wer mag, bekommt sogar noch Nachschlag. Nein – ich habe drauf verzichtet, nur falls jemand fragt.
Moment, kein Absatz ohne Leiden, Schippchen drauf und so: Irgendwie fühle ich mich auf der Heimfahrt etwas kränklich. Der leichte Kopfschmerz und der Nieser eben – bahnt sich da was an oder ist es das übliche Pre-Race-Pseudo-Dingens?
Scheiternde Rituale
Am Raceday ist der Kopf und die Nase wieder frei. Also doch das Pseudo-Dingens. Wie immer. Ich bin ja generell ein Fan von Ritualen. Das Parkhaus am Markt, in dem ich bisher immer mein Auto abgestellt habe, ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Dann wird’s halt der Parkplatz in der Karl-Marx-Straße. Der ist etwas weiter weg, somit graut’s mir schon vor dem Rückweg. Auch das Meet & Greet mit Katja vor den Dixis muss heute ausfallen, da ich auf der Raststätte kurz vor Eisenach den Umsatz von Sanifair um einen Euro gesteigert habe. EINEN Euro. Alter, das ist doch Wucher! Oder?
Tja, und dann stehe ich da auf dem Markplatz in Eisennach, der sich so langsam füllt. Die erhoffte Euphorie wird ein wenig von meinem mulmigen Gefühl und dem Zweifel überlagert, ob das mit den 74 Kilometern heute wirklich eine gute Idee ist. Ab wann wird es wohl hart werden? Ab dem Großen Inselsberg? Oder doch erst ab Kilometer 40, so wie vor zwei Jahren? Egal, jetzt ist es zu spät. Ich muss da durch – der Schneewalzer schalmeit schon über den Platz. Gleich geht es los.
Die ersten Meter durch die Gassen von Eisenach nutze ich zur Kommunikation mit den Beinen: „Hey, geht’s euch gut? Habt ihr Bock auf Ultra?“ frag ich sie. „Ey, echt jetzt? Wir haben dir doch unmissverständlich erklärt, dass wir beide davon Abstand nehmen möchten. Na warte!“
Pfff, sollen sie doch meckern. Der Chef hier bin immer noch ich. Und außerdem: Guckt doch mal, wie schön das hier wieder ist. Die Morgensonne, der Nebel, die müffelnden Finisher-Shirts vom Rennsteiglauf 1995…
Am Wegesrand entdecke ich den ersten Profifotografen. Genau in dem Moment senkt er seine Kamera und fummelt am Display herum. Super, das wird wieder eine eher kümmerliche Auswahl werden, die mir nach dem hoffentlich erfolgreichen Finish zu Auswahl stehen wird. Wie der folgende Schnappschuss zustande gekommen ist, werde ich erst etliche Kilometer später erfahren.
Bis zum eigentlichen und offiziellen Weg des Rennsteigs genießen wir noch die Einrollphase. Irgendwie bin ich doch froh, dass ich mich zum Start entschieden habe. Ist schon schön hier.
(Doch noch) Meet & Greet
Kurz darauf kommt es dann doch noch zum Meet & Greet mit Katja. Das Pre-Race-Pseudo-Dingens ist bei ihr leider anscheinend weniger pseudo. Ihr geht’s nicht so gut, erzählt sie. Ich bin mir trotzdem ziemlich sicher, dass sie mich später irgendwann wieder einsammeln wird.
Apropos einsammeln: Die zwei, die hier gerade an mir vorbeirennen – die kennst du doch. Unser frisch vermähltes Ultracouple f.k.a. Team Ultraleicht. Ludmilla und Christian nehmen jeden Ultra mit, der nicht bei drei auf den Bäumen ist. Logisch, dass sie auch beim Supermarathon am Start stehen. Als Buddies taugen die beiden allerdings auch nichts – zu schnell für mich. Ihr seht, die Auswahl wird immer enger, wenn ich mein Training weiterhin so luschig gestalte. Vielleicht sollte ich doch mal mit Bergsprints und Intervallen anfangen?
Nach einem kurzen Plausch macht das Team Ultraleicht seinem Namen alle Ehre und entfleucht nach vorn, hinein in mystische und neblige Landschaften.
So langsam meldet sich der kleine Hunger: „Wird das bald mal was mit der Fettbemme und dem Haferschleim?“ – Ja, doch. Die Glasbachwiese naht!
Das Fettbemmen-Eldorado
Mit dem Verpflegungspunkt Glasbachwiese bei Kilometer 17,8 verbinde ich besondere Erinnerung. Hier hatte ich bei meiner Rennsteig-Premiere den ersten Kontakt mit einer Fettbemme. Ja, neee. Moment. So isses nun auch wieder nicht, denn Schmalzbrote kenne ich schon seit meiner Kindheit. Mit Opa habe ich immer Wettessen gemacht – wer von uns beiden schafft mehr davon? Er hat mich stets gewinnen lassen – ich war ja so dünn. Hier wiederum handelt es sich jedoch um eine original Thüringische Fettbemme. Also das Äquivalent zur Bratwurst – nur in Brot und ohne Senf, aber dafür mit Salz. Braucht man ja, als Läufer.
Letztes Jahr hat mir dann Karin, die an der Glasbachwiese die Oberhand bei der Fettbemmen-Manufaktur hat, versprochen, dass die am VP all die Brote nur für mich schmieren werden. Tja, und nun war’s so: Die Fettbemmen waren da – Karin nicht. Schöner Mist. Aber immerhin, auf die Kürschner Buam ist Verlass. Gleich am ersten Meter wird abgeklatscht, die Stimmung ist mindestens auf dem Niveau, den mein Puls gleich beim Anstieg auf den Großen Inselsberg haben wird.
Dem Verpflegungsmekka kann sich selbst das Team Ultraleicht nicht entziehen, wenngleich die beiden auf die Fettbemmen verzichten und sich mit Haferschleim begnügen. Scheinbar haben sie Angst, dass sie zukünftig als Team Ultraschwer unterwegs sein müssen. Nun, sie wissen nicht, was sie verpassen…
Leere Versprechungen
So langsam werdet ihr euch fragen, wo denn die versprochenen Beschwerden bleiben. Leidet der Kerl etwa immer noch nicht? Trotz des ganzen Mimimis vorab? Noch nicht mal, wo es hoch zum Großen Inselsberg geht?
Nur die Ruhe. Kommt schon noch. Keine Angst. Überlassen wir die Bühne aber noch kurz ein paar anderen Sportlern, die ich auf dem Weg nach oben getroffen habe. Zum Beispiel Günther, der bisher immer an derselben Stelle des Anstiegs steht und uns alle anfeuert. Er selbst ist bereits 25-mal den Supermarathon gelaufen und weiß demnach ziemlich genau, was uns noch bevorsteht.
Und dann wäre da noch David, der heute seinen ersten Ultra läuft, aber eigentlich sonst nur auf Kurzstrecken um die 5 KM unterwegs ist. Okay, kann man schon mal so machen. Wenn man jung ist. Spoiler: Er wird das Ding heute in 8:57:21 rocken. Respekt!
Oben auf dem Berg habe ich übrigens fest mit Annette gerechnet. Ihr erinnert euch, die nette Frau vom Motivationskünstler Stefan („Kannst ja am Grenzadler aussteigen!“). Aber: Nüschte. Ist der etwa schon hier durch? Was fehlt noch? Abgesehen von etwas Sonne? Die Matten für die Zeitnahme habe ich nicht bemerkt, und den Fotograf, der hier sonst immer hockt, auch nicht. Ich checke zur Sicherheit mal das Tracking auf der Rennsteig-Webseite. Alles gut – die Durchgangszeit (02:58:59) ist getracked. Laut Prognose wäre das eine Zielzeit von 8:49. Hahaha. Im Lebtag nicht!
Gerade, wo wir alle dabei sind, uns unsere Knochen beim Bergablauf zu zerstören, entdecke ich den oben vermissten Fotografen im Gebüsch hockend. Ein Foto ausgerechnet jetzt, wo wir uns wenig vorteilhaft den Hang runterstürzen? Naja, eigentlich ist der Schnappschuss doch ganz okay geworden. Oder?
Mentaltraining
Mittlerweile erreichen wir Punkte, die ich mental für wichtig erachte. Mal abgesehen davon, dass ich beim VP auf der Ebertswiese wieder meinen Gelüsten hinsichtlich Fettbemmen und Haferschleim nachgehen kann, ist hier gleichzeitig auch Halbzeit. Ziemlich beruhigend, dass ich die erste Hälfte des Rennens ohne große Komplikation hinter mich bringen konnte.
Das Zitat »Laufen ist zu 90% Kopfsache. Der Rest ist mental.« kennt ihr bestimmt. Ich bin mir sicher, dass das Motto der zweiten Hälfte werden wird. Und ich sollte recht behalten. Bis zum Kilometerschild mit der 40 drauf läuft noch immer alles super. Das hatten wir auch schon mal schlechter erlebt.
Bei der Marathonmarke bestätigt sich meine Vermutung, dass das mit der Prognose im Tracking völliger Unsinn ist. Fast zehn Minuten langsamer als letztes Jahr. Egal, heute zählt eh nur das Ankommen. Mooooment, wirklich? Wenn ich ehrlich bin, hoffe ich, dass ich unter 10 Stunden ankommen werde. Jetzt, nach mehr als der Hälfte kann man die Zielsetzung schon einmal einem Feintuning unterziehen.
Doch wie schnell solche Pläne ad acta gelegt werden können, zeigt sich nur wenige Kilometer später. Hinunter zum VP Neuhöfer Wiesen fangen meine Schienbeinmuskeln an zu schmerzen. Eigentlich völlig normal, dass irgendwann im Laufe eines Ultras irgendwo und irgendwas wehtut. Ihr erinnert euch sicher an das Tal der Schmerzen aus dem Buch »Der Aufstieg der Ultra-Läufer« von Adharanand Finn – ich hatte 2022 davon erzählt. Aus einem Tal kommt man auch wieder heraus. Manchmal braucht man allerdings Hilfe.
Am VP setze ich erstmal auf eine Bank und versuche mich mit einem Becher Vita Cola wieder in Form zu bringen. Mit dem Kollegen neben mir komme ich ins Gespräch. „Boah, ich hab gerade voll den Hänger. Fehlt nicht mehr viel und ich steige beim Grenzadler aus.“ jammere ich ihm einen vor. „Das machst du nicht! Schau doch mal auf die Uhr. Du bist doch voll gut in der Zeit. Zur Not gehst du den Rest.“ erwidert er beinahe in einem Befehlston, so dass ich gar nicht anders kann, als seinen Rat anzunehmen. Falls du das zufällig liest – hab vielen Dank. Du hast mit Sicherheit dazu beigetragen, dass ich in Schmiedefeld angekommen bin.
Das Grenzadler Dilemma
Das hier heute ist meine dritte Teilnahme beim Rennsteig Supermarathon und – wenn alles gut geht – mein zehnter Ultramarathon. Im Grunde sollte ich demnach wissen, worauf ich mich einlasse. Hinter dem VP geht mir vieles durch den Kopf. Falls ich doch beim Grenzadler aussteige – was schreibe ich um Himmels Willen in diesem Bericht? Habe ich überhaupt wirklich einen Grund oder einfach nur keinen Bock mehr? Wird der verkürzte Supermarathon in der DUV-Liste gewertet?
„Bestimmt keine gute Idee, aber am Grenzadler kannst du ja aussteigen. Motivation kann ich.“ schrieb Marion in die Kommentare unter meinen Facebook-Post, in dem ich meine Zweifel an der Teilnahme beschrieb. Irgendeinen Stefan hat man halt immer unter seinen Followern. Vielleicht sollte mich besser an Mareks „Beim Grenzadler steigt man nicht aus!“ von vor zwei Jahren klammern. Und schließlich wäre dieser Bericht ohne das legändere Selfie mit Edwin am @vpschnaps irgendwie völlig desolat und unvollständig.
Mit diesen Gedanken schleppe ich mich, vorbei an KM 50, bis zum VP Gustav-Freytag-Stein, wo ich auf Rene treffe. Von ihm weiß ich, dass er auch leidend an den Start gegangen ist. Könnte es sein, dass er vielleicht auch Ausstiegsgedanken hat? „Quatsch, das ziehen wir jetzt durch!“ bekomme ich zu hören. Ja, okay. Dann soll es wohl so sein.
Da ist er, der Grenzadler. Die nette Annette wartet heute hier auf ihren Stefan und erkennt mich, als ich an ihr vorbeilaufe. Sein „Kannst ja am Grenzadler aussteigen!“ kommt mir wieder in den Sinn. Nee Stefan, vergiss es.
In dem Moment, als ich die Zeitmatte beim Grenzadler überlaufe, sind sämtliche Zweifel dahin. Stattdessen greife ich zum iPhone und checke, welche Zielzeit prognostiziert wird. Eben noch Häufchen Elend, und kurze Zeit später denkt der Kerl nur noch an die Kosmetik des Ergebnisses.
Frisch gestärkt mit dem wirklich sehr leckeren Haferschleim mit Himbeergeschmack und einem Becher Vita Cola mache ich mich wieder auf den Weg nach Schmiedefeld. Denn genau dort ist das schönste Ziel der Welt – und nicht am Grenzadler!
Hinter dem Grenzadler überquere ich die Straße. Jetzt ist der Drops quasi endgültig gelutscht. Der breite Teerstreifen kommt mir wie eine große, mentale Barriere vor, die ich gerade überschritten habe.
Fotomodell mit Anlaufschwierigkeiten
Mittlerweile sind es nur noch neunzehn Kilometer, die noch zu laufen sind. Lächerlich, noch nicht mal mehr ein Halbmarathon. Laufen? Habe ich gerade laufen gesagt? In Wirklichkeit quäle mich gerade gehend den Berg hoch, als ich rechts im Gebüsch eine Lichtschranke entdecke. Ah, okay – links steht auch eine. Macht Sinn, aber für was ist die gut? Bis ich es kapiere, ist es zu spät. Aber der Kollege neben mir kam auch nicht drauf…
Egal. Da gibt es sicher noch die ein oder andere Gelegenheit, in dem ich eine bessere Figur abgebe. Obwohl – beim Bergablauf habe ich mittlerweile wirklich heftige Schmerzen. Nicht nur die Schienbeine machen Probleme, sondern mittlerweile auch das rechte Knie. Ich könnte vielleicht versuchen, den Schmerz mit dem Eierlikör am VP Sommerwiese zu betäuben, aber genau hier hatte ich letztes Jahr schon zur falschen Verpflegung gegriffen. Also lasse ich das mal lieber.
Die nächste Gelegenheit, auf einem Foto eine gute Figur zu machen, ergibt sich auf dem Weg hinauf zum Großen Beerberg. Wie der Osterhase im Gebüsch hockt er da – der Fotograf. Mit Warnweste, damit es auch jeder mitbekommt. Selbst die, die sich eben mit Eierlikör die Lichter ausgeschossen haben. Dummerweise erwischt er mich wieder nur gehend. Mit meinen Kräften muss ich haushalten. Das reicht gerade nicht für einen Bergsprint.
VP Schnaps rulez!
Es ist wahrlich ein ungeschriebenes Gesetz: »Am VP Schnaps läuft man nicht vorbei!« Es reiht sich somit ein mit: »Am Grenzadler steigt man nicht aus!«, was ja auch logisch ist, denn sonst kann man am @vpschnaps auch nicht vorbeilaufen.
Heute erreicht man dieses Highlight des Laufs sogar ein paar Meter eher, denn an der üblichen Stelle hat sich so ein Osterhasen-Fotograf breit gemacht. Tatsächlich finde ich diesen Ort für die hochprozentige Verköstigung sogar noch passender, denn hier ist gleichsam auch der höchste Punkt der Strecke. Wenn das mal kein Gleichnis ist, dann weiß ich es nicht.
Beim Schnaps muss ich passen, aber Cola und alkoholfreies Weizen geht. Und das obligatorische Selfie mit dem weihrauchenden Edwin muss selbstredend auch sein.
Pain is temporary…
Vor dem, was mich jetzt erwartet, habe ich etwas Angst. Die nächsten Kilometer geht es nur bergab. Letztes Jahr habe ich es hier rollen lassen und hatte etliche Plätze gutmachen können. Heute ist daran nicht zu denken. Jeder Schritt tut weh. Ich merke, dass der Schmerz beim schnelleren Laufen genauso stark ist, wie beim langsameren Tempo. Das geht trotzdem immer nur für Abschnitte gut. Immerhin erwischt mich der nächste Fotograf im Laufschritt. Endlich was fürs Familienalbum.
Die Aussicht auf ein leckeres Nutellabrot mit Banane am VP Schmücke lässt mich beinahe all die Schmerzen ertragen, die ich auf dem Bergabstück dorthin habe. Boah, das wird noch ein hartes Stück Arbeit bis ins Ziel, aber hey: Einstellig! Nur noch neun Kilometer bis ins Ziel – das ist nicht mal meine mittwöchliche Buga-Runde.
Als ich gerade mit vom Nutella verschmierten Mund auf der Bank sitze und mein Brot verschlinge, kommt Katja am VP an. Auch sie hatte Gedanken ans Aufhören, erzählt sie. Glücklicherweise hat aber Matthias ihren Ausstieg verhindert. Scheinbar hat er dafür so viel Energie benötigt, dass er jetzt selber am struggeln ist und Katja sich derzeit revanchieren möchte. Ob ich mich dem leidenden Team anschließen möchte, fragt Katja. Klar, wie kann ich da nein sagen?
Schnell stellt sich allerdings heraus, dass keiner des Teams das Tempo des anderen laufen mag, beziehungsweise kann. So beschließen wir uns wieder zu trennen. Ich sehe Katja etwas neidisch hinterher, wie sie leichtfüßig und grazil davonläuft. Ihr „gebrauchter Tag“, von dem sie anfangs noch berichtet, scheint sich gerade zum positiven zu wenden. Meiner hingegen ist noch immer schmerzhaft, aber die Aussicht, noch unter zehn Stunden anzukommen, führt dazu, dass ich tatsächlich mal wieder laufend und mit Daumen hoch auf einem Foto abgelichtet werde.
…Glory is forever.
Ich falle schon wieder darauf rein: „Ah, da unten ist Schmiedefeld. Gleich bin ich im Ziel.“ jubiliere ich. Ja, von wegen. In Wirklichkeit ziehen sich die letzten drei Kilometer so dermaßen fürchterlich, dass ich fluchend, jammernd und auf dem Zahnfleisch kriechend die voraussichtliche Zielzeit verbessern will, die mir die Garmin gerade anzeigt. So ein Unsinn – jetzt im Nachhinein betrachtet. Ob ich nun nach 9:46h oder 9:48h ins Ziel renne – das interessiert doch hinterher keine Sau mehr. Nicht mal mehr mich.
In der Kurve vor dem Zieleinlauf klatsche ich kleine Zuschauerhände ab, kämpfe mal wieder mit ein paar Tränen und vergesse alle Schmerzen, die ich auf den letzten Kilometern hatte. Keine Ahnung, ob Schmiedefeld wirklich das schönste Ziel der Welt ist – in dem Moment allerdings mit Sicherheit.
Epilog
»Der schönste Schmerz der Welt liegt auf dem Weg nach Schmiedefeld!« schrieb mir Ulf nach dem Rennen, und Nicole fasste es mit »Also musste der Kopf das Rennen laufen. Respekt, das ist Willpower!« gut zusammen, was heute passiert ist. Ich lasse noch ein paar Bilder sprechen – viel mehr Emotion geht nicht. Danke, Rennsteig! ❤️
23 Kommentare
Comment by Stefan
Stefan 30. Mai 2024
Hallo Martin
Hier schreibt der Motivationskünstler Stefan
Sehr gut geschrieben und noch viiiiiiiel besser gelaufen.
Auch hier nochmal:
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM FINISH
Gruss Stefan
Comment by Martin
Martin 30. Mai 2024
Danke sehr. Herzlichen Glückwunsch auch dir.
Den „Motivationskünstler“ hast du dir 2022 redlich verdient. Ich schätze, wenn ich meinen Bericht zur 25. Teilnahme schreiben werde, kommt der immer noch drin vor.
Comment by Synke
Synke 30. Mai 2024
Sehr unterhaltsam geschrieben, lieber Martin! Respekt vor Deiner Laufleistung und Willenskraft!
Comment by Martin
Martin 31. Mai 2024
Vielen Dank, Synke.
Die Willenskraft war tatsächlich mehr gefordert als die Laufleistung.
Comment by Thomas
Thomas 30. Mai 2024
Respekt, Martin! Was Du da abspulst ist ganz schön beeindruckend. Macht wie immer Spaß, lesend ein wenig daran teilzuhaben. Wie lange werden denn jetzt die Wunden geleckt, bis der nächste Ultra ansteht?
Comment by Martin
Martin 31. Mai 2024
Ein Ultra ist gerade nicht in Planung, was allerdings nicht heißt, dass ich in diesem Jahr keinen mehr laufen werde. Anfang September geht’s in die schöne Rhön zum 3. HochRhön Bergtrail mit 42k und 1.250HM.
Danke für’s Lob und deinen Kommentar.
Comment by Marcel
Marcel 30. Mai 2024
Sehr schön Martin! Da bekomme ich doch Lust, den Rennsteig auch noch mal zu laufen! Grüße ✌
Comment by Martin
Martin 31. Mai 2024
Oh ja, das mach mal. René war auch recht begeistert. Ihr schnellen Jungs bekommt von der Strecke ja leider nicht soviel mit, wie wir „Genießerläufer“. Oder wirst du bei den VPs etwa auch zu Schleim und Fettbemme greifen?
Comment by Oliver
Oliver 31. Mai 2024
Glückwunsch zum Durchbeissen, gut gemacht! Ich bin immer wieder erstaunt wieviel Details du nach so einem Lauf noch auf dem Schirm hast, ich bin ja mehr so der Autopilot-Typ. Gute Erholung!
Comment by Martin
Martin 31. Mai 2024
Danke dir.
Das mit den Details kommt beim Schreiben. Zudem bin ich schon auf dem Weg dabei, mir Punkte für den Text zu merken. Lauf und Blogbeitrag sind im Grunde genommen eins. Ich bin noch nie einen (größeren) Wettkampf gelaufen, ohne danach darüber berichten.
Comment by Catrina
Catrina 3. Juni 2024
Gratuliere! Eine sehr unterhaltsame Lektüre, super beschrieben und sehr schöne Fotos!
Ich habe schon viel vom Rennsteig gehört, habe aber noch nie einen Bericht darüber gelesen. Jetzt habe ich die Bildungslücke geschlossen.
Nur der Himbeer-Haferschleim, der macht mir noch etwas Mühe… schmeckt das wirklich?
Comment by Martin
Martin 3. Juni 2024
Ja, der Rennsteig ist definitiv Kult. Muss man aber mögen – die Menschenmassen, gerade am Anfang, sind nicht jedermanns Sache. Auf der HM Distanz ist es noch heftiger. Der Supermarathon hat ja nur 1800-2000 Teilnehmer.
Himbeerschleim: Stell dir Himbeeren, Haferflocken und Wasser im Mixer gequirlt vor. Ich mag’s. An anderen VPs gab es den Schleim mit Milch. Das verträgt oder mag nicht jeder.
Comment by ultraistgut
ultraistgut 3. Juni 2024
Dachte ich es mir doch, wenn du zu mir kommst, hast du bestimmt irgendwas Neues zu berichten. Und dann wieder ein amüsanter, sehr langer Bericht über DEN Rennsteiglauf !! Gratulation !
Bin damals den Rennsteig ( 76,5 km ) in 9.18 gelaufen, wollte ich nur mal kurz sagen, falls es dich interessieren sollte !!
“ Schade. Wieder ein Jahr warten.“ Willst du im nächsten Jahr erneut dort starten ? Mir hat ein Rennsteig-Erlebnis gereicht ! Naja, bis dahin ist ja noch ein wenig Zeit !!
„…kämpfe mal wieder mit ein paar Tränen und vergesse alle Schmerzen, die ich auf den letzten Kilometern hatte.“ Ist es nicht das, was wir lieben, wofür es sich lohnt, sich zu quälen ????? Immer wieder und immer wieder………………….Das schönste Gefühl, nach “ getaner Arbeit “ im Ziel einzulaufen, egal, was vorher war !!!
Comment by Martin
Martin 3. Juni 2024
Och, ich komm definitiv öfters bei dir vorbei. So viel Ultras kann ich gar nicht laufen.
Wann war denn das mit deinem Rennsteig? Laut DUV Liste bist du 1991 dort 65km gelaufen.
Letztes Jahr bin ich alter Sack übrigens noch eine Stunde schneller gewesen.
Und ja: Bin schon für 2025 gemeldet.
Das mit dem Ziel ist definitiv richtig. Nur wenige Kilometer vorher habe ich mir geschworen, dass es mein letzter Rennsteig ist.
Comment by Jenny
Jenny 4. Juni 2024
Ganz herzlichen Glückwunsch, Martin! Und mal wieder ein ganz toller Bericht!! Ich freue mich sehr für dich, dass du den Rennsteig geschafft hast!! Und nächstes Jahr will ich auch wieder!!! LG Jenny
Comment by Martin
Martin 4. Juni 2024
Lieben Dank, Jenny.
Bis zum nächsten Rennsteig sehen wir uns sicher auf einem der Läufe, die Gerno veranstaltet. Oder?
Comment by Jenny
Jenny 4. Juni 2024
Auf jeden Fall!! Du musst mal beim Meißner Wochenende mitlaufen!!
Comment by ultraistgut
ultraistgut 4. Juni 2024
Du hast ja so Recht, ich habe es mit dem Müritz-Lauf verwechselt, die Kilometeranzahl und die Zeit stammen von diesem Lauf – habe mich einfach nur verguckt !!
Dein letzter ??? Mal schau‘ n !
Comment by Martin
Martin 4. Juni 2024
Nein, nicht mein Letzter. Siehe eine Zeile weiter oben im Kommentar.
Comment by Andreas
Andreas 5. Juni 2024
Mann, Martin, du spulst ja ganz schön Wettkampf-Kilometer ab! Und dann noch mit Höhenmetern! Glückwunsch, dass du es geschafft hast. Mal sehen, eigentlich sind die sehr langen Läufe ja auch mein Ding, aber gleich 70+? Da bin ich mir nicht so sicher – warten wir es ab. Dir auf jeden Fall eine gute Erholung nach dieser enormen Leistung.
Comment by Martin
Martin 5. Juni 2024
Ach. Das schaffst du auch. Man wird ja gut verpflegt unterwegs. Ich zitiere mal die legendäre Ultraläuferin Ann Trason: „Ultramarathons sind nur ein großer Ess- und Trinkwettbewerb mit ein wenig Laufen.“
Comment by Andreas
Andreas 5. Juni 2024
Na, essen und trinken kann ich, sogar sehr gut Mal sehen, wohin mich meine Beine noch tragen…
Comment by Martin
Martin 5. Juni 2024
Ja, ich muss in der Hinsicht auch immer aufpassen, dass ich nicht ins Übertraining abgleite.