„Ich freue mich schon auf deinen Bericht“ ruft er mir hinterher, als er auf die zweite Runde abbiegt. Ja doch, Thorsten. Eben noch in höchster Not, und schon baut er unwissend Druck auf. Mensch, nun lass mich doch erstmal ins Ziel kommen…

Apropos Druck. In meine mich nicht unter selbigen zu setzen. In der Vorbereitung auf die Halbmarathon Distanz beim diesjährigen Kassel Marathon gab es kein Tempotraining und auch keine Intervalle. Im Grunde genommen gab es noch nicht einmal eine Vorbereitung. Ich bin gelaufen wie immer. Hausrunden und irgendwas Langes am Wochenende. Kurz nach dem HochRhön-BergTrail habe ich zudem noch alle Fünfe gerade sein lassen.

Kurz vor dem Wettkampf-Wochenende ist alles wie immer. Das Gefühl, dass eine Erkältung im Anmarsch ist, hat irgendwas von einer Sequenz aus dem Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Ich drehe also meine obligatorische Buga-Runde, auf der ich mich für den Schuh fürs Rennen entscheiden will. Schon nach wenigen Kilometern wird klar: Am Schuh hapert es nicht – die Beine sind müde und haben scheinbar wenig Bock auf das, was da am Sonntag ansteht. Ob das mit der Erkältung diesmal doch keine Einbildung ist?

Flache Bälle

„Ich mach langsam. Flache Bälle diesmal. Wenn ich denn überhaupt an den Start gehe.“ – Keine Ahnung, wem ich das alles erzählt habe. Der Holden mit Sicherheit. Die nimmt mich allerdings nicht ernst, denn sie glaubt zu wissen, wie es ausgeht. Ich hingegen bin sicher: Die Zeit vom letzten Jahr ist utopisch. Walter muss also allein laufen. Wenn ich um die 1:45 reinkomme, wäre das schon mehr als ausreichend für mein derzeitiges Befinden.

Es versteht sich von selbst, dass mit einem derartigen Understatement meine Euphorie im Startbereich eher so mittel ist. Irgendwie ist auch niemand da, bei dem ich mich ausheulen kann. Zum Beispiel über meinen Zahn, dessen Füllung mir noch am Vorabend rausgebrochen ist. Ich begrüße kurz Thorsten und Ron, die auf der Marathon-Distanz an den Start gehen. Und ich treffe Gunther, der gerade eine Motivationspause einlegt und gar nicht startet – es geht also noch schlimmer.

Die La-Ola-Welle vor dem Start. Dass der große Typ vor mir, der die Aussicht auf den Startbogen vermasselt, mein Physio Tobi ist, merke ich erst im Ziel. Klasse, oder?

Beinahe missmutig setze ich mich mit der Meute in Bewegung, als mit fünfminütiger Verspätung der Startschuss fällt. Ich überlege kurz, wo genau es am günstigsten ist, nach einem Ausstieg wieder zurück zum Parkplatz zu laufen.

War das schon immer so voll? Ich glaube ja. Kommt davon, wenn man nur einen Straßenlauf im Jahr auf dem Programm hat. Das Gerammel und Gewusel habe ich echt nicht vermisst. Ich versuche mal, die Pacer für die 1:45 zu überholen. Die ziehen die Läuferschar an, wie die Motten das Licht. Davor ist es merklich unaufgeregter.

Im Forstfeld angekommen, zeigt die Uhr auf dem letzten Kilometer eine Pace von 4:40. Hoppla, das ist dann doch etwas schneller als geplant und wird sich sicher bald rächen. Nach 10 km breche ich garantiert ein und muss mir das mit dem Weg zurück nochmal genauer durch den Kopf gehen lassen.

Das kurze Stück zur Lilienthalstraße, auf dem einen die hinteren Läufer entgegenkommen, nutze ich zum Abchecken bekannter Gesichter, aber irgendwie habe ich auch hier Pech. Allein unter mehr als zweitausend Halbmarathonis – so in der Art fühle ich mich gerade.

Das Pflichtprogramm

Ich muss ehrlich zugeben, dass es in Kassel wirklich schönere Ecken gibt als die Kilometer, die nun vor mir liegen. Wahrscheinlich laufen wir nur aus organisatorischen Gründen durch Bettenhausen und die Holländische Straße. Die Strecke kann man besser absperren, weil sich hierhin eh keiner freiwillig verirrt.

Ihr merkt schon, ich war schon mal besser drauf. Immerhin wird es nach Rothenditmold und den drei (neu gebauten) Brücken so langsam besser. Vielleicht steht an der Kreuzung zur Zentgrafenstraße wieder mein Physio Tobi und feuert mich an, denke ich. Ohne zu wissen, dass der am Start genau vor meiner Nase stand.

Auf zur Partymeile

So, jetzt noch die Breitscheidstraße hochquälen, und dann ist der Drops eigentlich so gut wie gelutscht. Das Publikum am Streckenrand verdichtet sich Meter um Meter. Kleine Kinderhände strecken sich mir zum Abklatschen entgegen. Es fängt doch langsam an etwas Spaß zu machen.

Ja, wirklich. Ich scherze nicht. Auf den Bildern ist zwar kaum jemand zu sehen – aber hey, sie sind da. Menschen, die uns anfeuern. Mit selbstgemalten Schildern. Und Tröten, Rasseln und Trommeln.

So, jetzt. Hier. Beim Hotspot der Friedrich-Ebert-Straße f.k.a. Fritze, kurz vor Joe’s Garage. Wahrscheinlich verwechseln die mich gerade mit jemand anderem, aber sie jubeln mir zu!

Und sie halten mir Schilder entgegen, mit denen ich nochmal meinen Akku aufladen kann. Na, wenn das mal nicht hilft, dann weiß ich es nicht.

May the force be with you

Bisher dachte ich immer, die Fritze wäre durch nichts zu toppen. Hinterher ist man immer schlauer. Tatsächlich gibt es ein STRAVA-Segment namens »Anadolu Börek Force«. Habe ich erst nach dem Lauf entdeckt. Als Fan türkischer Spezialitäten just in diesem Lokal hätte mir das wohl noch mehr Minuten an der Endzeit ersparen können. Nun, man muss auch Ziele für 2025 haben – und wenn es nur die PB auf diesem Segment sein wird.

May the Anadolu Börek Force be with you!

Derart unwissentlich beflügelt finde ich mich in der Menzelstraße nicht nur auf dem letzten Kilometer, sondern auch im Windschatten von Thorsten wieder, der mit meiner vermeintlich doch recht strammen Pace auf der Marathondistanz unterwegs ist und demnach gleich und unmittelbar auf die zweiten Runde abbiegen wird. Ja, wenn – wenn er denn den Abzweig findet. Der wiederum ist gut erkenntlich ausgeschildert. Nur nicht an der Stelle, an der Thorsten ihn vermutet. Das Gespräch mit dem Ordner stelle ich mir so vor: „Junge, keine Panik. Lauf mal noch zwanzig Meter, dann geht’s links rein.“ „Ja, vielen Dank. Bin heute zum ersten Mal dabei.“ Trab, trab. „Nicht…“

Akku leeeeer….

Wenn mich meine Garmin nicht anlügt – tatsächlich macht sie das oft – könnte es was mit einer Zeit knapp unter 1:40 werden. Also noch mal Vollgas geben, beim Zieleinlauf im Auestation. „Hey, cooles Shirt“ bekomme ich als Dank für das Run Down Racism Statement als Erstes zu hören. Der Kollege am Streckenrand war gleichsam bekleidet, erfahre ich hinterher. Derart beflügelt (das hatten wir schon) nehme ich die Beine in die Hand…

…nur um dann in der letzten Kurve auf den Boden der Tatsache zurück geholt zu werden. Die Uhr auf der Großbildleinwand zeigt eine 1:40:28 an. Das wird also nichts mehr mit der Zeit unter 1:40.

Genau nach diesem Bild ist nicht nur der Akku der Kamera leer, sondern auch meiner. Reicht für heute. Ich freue ich auf das Zielbier und die angebotene Massage.

Tobi or not Tobi

Okay, die Überschrift ist schlecht. Aber: Den Tobi an der Ecke zur Zentgrafenstraße habe ich vermisst, den Tobi im Zielberich nicht erwartet, und den Tobi am Start genau vor mir nicht gesehen. Der Tobi auf der Massageliege neben mir hat so gejammert, dass ich ihn gerne als Physio geoutet hätte. Ihr seht – wir hatten Spaß.

Mein Fazit zum Kassel Marathon 2024

Ja, okay. Die Holde hat wie immer recht. Sie kann mein immerwährendes Mimimi vorher nicht mehr hören und ist hinterher wenig erstaunt, wenn es dann doch besser gelaufen ist, als von mir prognostiziert. Hey, es geht halt nichts über Beständigkeit.

Daten zum Lauf